Die
Friedrich-Ebert-Stiftung hatte zur Besichtigung der "Reformbaustelle Volkspartei" geladen. SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles hatte eingeleitet; mit einer
schonungslosen Beschreibung des Ist-Zustands der SPD: "Unsere Drähte in die Zivilgesellschaftet sind verödet." Insbesondere in die junge Zivilgesellschaft: "Das Durchschnittsalter der Partei
liegt bei 58-60 Jahren." Das traf auch auf das Publikum am Mittwochabend in den Berliner Stiftungsräumen zu.
Auch Wiesendahl attestierte der SPD zunächst große Probleme, sprach von Substanzauszehrung, Identitätskrise und verlorener Glaubwürdigkeit: "Der Markenkern ist beschädigt." Dennoch seien
die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für ein Wiedererstarken der SPD günstig: Eine Mehrheit in Deutschland wolle in einer solidarischen Gesellschaft leben, sehne sich nach sozialer
Gerechtigkeit und befürworte einen "kräftigen Sozialstaat".
Auf die Ortsvereine setzen
Zudem seien bei aller Politikverdrossenheit rund 15 % der Bürger bereit, sich aktiv zu engagieren. "Das sind neun Millionen Menschen." Die SPD müsse Wege finden, diese Menschen zu erreichen
und an sich zu binden. Das sei zwar eine "herkulesmäßige Aufgabe", deren Bewältigung Beharrlichkeit verlange, aber es sei durchaus zu schaffen, denn: "Erstmals gibt es einen Parteivorstand, der
den Ernst der Lage erkannt hat", und: "Es gibt ein durchdachtes Konzept."
Wiesendahl ermunterte Andrea Nahles, auf die 10000 Ortsvereine zu setzen und "die Lehmschicht der Funktionäre zu durchdringen". Nur ganz nah vor Ort sei der Kontakt zur Zivilgesellschaft
wiederzugewinnen. Höhere Organisationsebenen hingegen "verwalten die Partei."
Das sahen die beiden anderen Referenten ähnlich. Der Leipziger Organisationsentwickler Mario Wernado sagte allerdings Widerstand gegen die von Frau Nahles angestrebte Parteireform voraus:
"Es gibt keine Veränderung ohne Widerstand." Er riet, die nötige Veränderung "mit dem Widerstand durchzusetzen, nicht gegen ihn." Dazu dürfe sich die Parteiführung nicht unter Zeitdruck setzen.
Organisationsreform habe immer dann eine Chance, wenn die Mitglieder und Funktionäre verstehen, worum es geht und wenn sie das Gefühl der Bewältigbarkeit und der Sinnhaftigkeit der Reform haben.
Wernado: "Alles ist machbar, es ist nur eine Frage des Preises."
Wie Parteireformen gelingen
Der Göttinger Politikwissenschaftler
(und vorwärts-Autor) Matthias Micus hat im Auftrag der Ebert-Stiftung
Parteireformen in anderen Ländern untersucht, gelungene und misslungene, und zieht daraus klare Lehren:
1. "Berufspolitiker sind unverzichtbar." Mit Seiteneinsteigern habe man vielerlorts nach anfänglicher Euphorie schlechte Erfahrungen gemacht: "Der Vertrauensverlust wurde beschleunigt." Das
Politikgeschäft könne man nur durch "learning by doing" begreifen. Dazu brauche es die vielgescholtene "Ochsentour".
2. Die Öffnung der Partei für Nichtmitglieder sei nur dann sinnvoll, wenn Mitglieder "Reservatrechte" behalten; vor allem das Recht, Personalentscheidungen zu treffen.
3. Mitgliederwerbung sei nur dann dauerhaft erfolgreich, wenn Neumitglieder nach ihrem Parteieintritt betreut und zum Mitmachen aufgefordert werden. Vorbildlich praktiziere das die SPÖ in
Steiermark.
4. Man dürfe von einer Partizipation via Internet nicht zu viel erwarten. Schon deshalb nicht, weil es auf lokaler Ebene an Kapazitäten mangele, mit den Mitteln des Web 2.0 angemessen
umzugehen. Aber auch, weil das Umschalten auf Willensbildung aus dem Netz heraus den Verzicht auf zentrale Steuerung verlange. Und den "Mut der Parteispitze, Widerspruch zu ertragen".
Ja, man könne "die Mitte gestalten", wie Sigmar Gabriel es auf dem
Dresdener Parteitag angekündigt hat, sagte Micus, aber nur, wenn es gelingt, eine neue "sozialdemokratische Erzählung" zu formulieren und
glaubwürdig darzustellen. Dazu bedürfe es glaubwürdiger Darsteller. Micus: "Glaubwürdig sind Leute, die man sich in einer anderen Partei nicht vorstellen kann."