Flüchtlingspolitik

Migrationsforscher: Integration erfolgt nicht über Nacht

Lars Haferkamp12. Oktober 2015
Für den Migrationsforscher Klaus J. Bade ist die Integration hunderttausender Flüchtlinge nicht abhängig von Obergrenzen, sondern von der Aufnahmebereitschaft der Gesellschaft. Zugleich stellt er klar: „Wer die demokratischen Spielregeln nicht einhalten will, hat in diesem Land nichts verloren.“

Herr Professor Bade, die Kanzlerin sagt, das Grundrecht auf Asyl kenne „keine Obergrenze“. Gilt das auch für die Aufnahme- und Integrationsfähigkeit einer Gesellschaft?

Das stimmt für den Geltungsbereich des Grundgesetzes. Europarechtlich werden Obergrenzen in der „Festung Europa“ unter dem defensiven Stichwort „europäisches Kontingent“ diskutiert, was absurd ist, solange es keine „Weltkontingente“ gibt. Die Integrationsfähigkeit einer Gesellschaft ist nicht abhängig von Obergrenzen, sondern von qualitativen Kriterien. Am wichtigsten ist die Aufnahmebereitschaft. Die ist abhängig vom Selbstverständnis einer Gesellschaft, zum Beispiel als Einwanderungsgesellschaft, und vom Vertrauen ihrer Bürger in  transparente und verlässliche Regelsysteme. Die müssen dem Bedürfnis nach sozialer Gerechtigkeit entsprechen und zum Beispiel zu verhindern suchen, dass es zu einer veritablen Opferkonkurrenz zwischen einheimischen Armen und zugewanderten Flüchtlingen kommt oder zu für alle unerträglichen Belastungen der kommunalen Sozialsysteme.
 
Deutschland nimmt in diesem Jahr über eine Million Flüchtlinge auf. Nimmt man die Angehörigen des Familiennachzuges hinzu, könnten deutlich mehr Menschen werden. Kann bei solchen Zahlen Integration gelingen?

Wir wissen bislang noch gar nicht, wie viele Zuwanderer bis zum Ende des Jahres aufgenommen werden. Außerdem muss man hier asylsuchende Flüchtlinge und Wirtschaftswanderer auseinanderhalten. Die vorwiegend europäischen Wirtschaftswanderer sind meist jung und hochmobil. Sie kehren fast zur Hälfte innerhalb von anderthalb Jahren wieder zurück oder ziehen weiter und haben bestimmt nicht die Absicht, ihre Eltern nachzuholen. Von den asylsuchenden Flüchtlingen dürfen nur diejenigen Familienangehörige nachziehen, die einen gesicherten Aufenthaltsstatus erhalten, was für deutlich weniger als die Hälfte gilt. Außerdem malen die asylbürokratischen Mühlen in Deutschland extrem langsam.

Deshalb dürfte sich zum Beispiel die Frage nach dem Familiennachzug von im Herbst 2015 eingereisten Flüchtlingen, deren Asylanträge zum Teil erst im Sommer 2016 in Bearbeitung genommen werden können, kaum vor 2017 stellen. Ob der Andrang in Deutschland angesichts der immer schärferen Abriegelung der Außengrenzen der EU mit den ‚Hotspots’ genannten Verteilerzentren an den Schengengrenzen und den ‚Transitzentren’ genannten Auffanglagern mit Asylschleusen in der Nähe der Ausgangsräume von Fluchtwanderungen dann noch so stark sein wird, kann bezweifelt werden.

Klassische Einwanderungsländer wie die USA, Kanada oder Australien kennen Obergrenzen, für Erwerbsmigranten wie für Flüchtlinge. Was kann Deutschland davon lernen?

Die Aufnahme von asylsuchenden Flüchtlingen ist im Sinne des Grundgesetzes eine humanitäre Pflicht. Die Aufnahme von Erwerbsmigranten hingegen ist klar steuerbar. Denn über die Zulassung von Einwanderern entscheiden ausschließlich die Interessen des Aufnahmelandes; abgesehen von der Familienzusammenführung, die auch in den klassischen Einwanderungsländern einen immer höheren, zum Teil sogar den größten Anteil ausmacht.
 
Die Zahl der Zuwanderer ist eine wichtige Variable für den Integrationserfolg. Deutschland braucht aufgrund der starken Zuwanderung Tausende neuer Lehrer, Polizisten, Sozialarbeiter - und das sofort. Diese gibt es aber gar nicht auf dem Arbeitsmarkt. Wo sollen sie plötzlich herkommen?

Natürlich geht das nicht von heute auf morgen. Aber es bleiben ja auch nicht alle Zuwanderer hier. Im übrigen sollten wir uns lieber darum bemühen, unsere Integrationskurslehrer und Sozialarbeiter anständig zu bezahlen, dann regelt sich manches wie von selbst.

Heinz Buschkowsky schlägt verpflichtende Integrationskurse für Flüchtlinge vor, wie dies in Schweden praktiziert wird. Was halten Sie davon?

Einverstanden.
 
Trotz vorbildlicher Bemühungen sind die Integrationserfolge selbst in Schweden begrenzt: Jeder zweite Immigrant im erwerbsfähigen Alter hat dort keine Arbeit, 42 Prozent der Langzeitarbeitslosen und 58 Prozent der Sozialhilfeempfänger sind Immigranten. Was muss Deutschland besser machen?

Die Erfahrung lehrt, dass die sozialen Folgekosten unzureichender oder sogar gescheiterter Teilhabe bei weitem höher sind als die Kosten einer rechtzeitigen teilhabeorientierten Integrationsförderung, die sich vor allen Dingen auf die sprachliche und berufliche Dimension erstrecken muss.

In der Politik heißt es, die Flüchtlinge seien „ein Segen für den deutschen Arbeitsmarkt“. Der Arbeitgeberverband sagt, 50 Prozent der Flüchtlinge hätten keine abgeschlossene Berufsausbildung. Wie passt das zusammen?

Ein „Segen“ sind sie zunächst einmal eher für die Arbeitgeber, weil das Arbeitskräfteangebot steigt. Für Wirtschaft und Sozialsysteme sind sie ein Segen nur dann, wenn sie sozialversicherungspflichtig beschäftigt werden können. Und dazu sollten die Arbeitgeber mit betriebsinternen Qualifikationsmaßnahmen beitragen. Viele tun das auch schon.

Migrationsexperten warnen, die räumliche Konzentration von Zuwanderern erschwere die Integration und fördere Parallelgesellschaften. Wie kann das verhindert werden?

Literaturkenntnis schützt vor Neuentdeckungen, auch bei sogenannten Migrationsexperten: Alle Versuche, Obergrenzen für die Ausländerzuwanderung in bestimmten Stadtteilen zu setzen, sind in den 1970er Jahren gescheitert. Dem stand schon der Schutz der Familie durch das Grundgesetz entgegen. Und das Gequatsche von „Parallelgesellschaften“ ist, mit Herbert Wehner gesprochen, „noch quätscher“. Dahinter steht die sogenannte Koloniebildung im Ansiedlungsprozess, die Integration beschleunigen, aber auch bremsen kann: Die Kolonie erleichtert zunächst die Eingliederung in vertraut wirkendem Kontext. Sie kann die weitere Integration in die umschließende Aufnahmegesellschaft aber auch verzögern, weil das die schrittweise Ausgliederung aus der Kolonie voraussetzt. Das war auch bei den deutschen Einwanderern im amerikanischen Mittelwesten oft nicht anders: Die erste Generation waren Deutsche in den USA. Aus ihnen wurden in der zweiten Generation Deutsch-Amerikaner und erst in der dritten Generation Amerikaner deutscher Herkunft.

Die Mehrheit der Zuwanderer kommt aus Ländern, in denen sie oft wenig Erfahrungen mit Demokratie, Toleranz gegenüber anderen Religionen oder der Gleichberechtigung der Geschlechter machen konnten. Wie muss die Aufnahmegesellschaft darauf reagieren?

Durch klare und unmissverständliche Ansage über die hier geltenden demokratischen Grundwerte und Spielregeln. Wer die nicht einhalten will, hat in diesem Land nichts verloren, egal aus welchen Gründen er oder sie gekommen ist.

Kanada schiebt jährlich tausende Zuwanderer ab, die sich nicht an die elementaren Spielregeln der kanadischen Gesellschaft halten. Sollte Deutschland das auch praktizieren?

Ja, wenn mit den „elementaren Spielregeln“ nicht deutschtümelnde Gebräuche, sondern die Grundwerte unserer Verfassung gemeint sind.
 
In Deutschland leben auch gewaltbereite Islamisten. Es heißt, die werben nun vor den Flüchtlingsheimen um neue Unterstützer. Polizei und Verfassungsschutz warnen vor einer Verfestigung des Islamismus. Teilen Sie diese Sorge?

Die sollen nicht warnen, sondern eingreifen – auch wenn in Heimen Christen von fanatischen Muslimen bedroht werden. Und Islamisten haben vor Flüchtlingsheimen ebenso wenig zu suchen wie Nationalsozialisten. Allerdings sind in Deutschland die Zahlen der gewaltbereiten Islamisten amtlich manipuliert. Im Bericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz  wird zum Beispiel die gesamte, nach Tausenden von Mitgliedern zählende islamische Glaubensgemeinschaft Milli Görüs noch immer der relativ überschaubaren Zahl gewaltbereiter Islamisten zugerechnet, die dadurch in etwa verzehnfacht wird. Gegen sie liegt aber kein Verdacht auf Verfassungsfeindschaft mehr vor, weshalb sie auch in den meisten Bundesländern gar nicht mehr beobachtet wird.

Klaus J. Bade

gilt als einer der führenden Migrationsforscher Deutschlands. Er lehrte bis 2007 als Professor für Geschichte an der Universität Osnabrück und war Begründer des Rates für Migration (RfM).

Flüchtlinge – Herausforderung für Europa

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Kommentare

Eingliederung erfolgt nicht über Nacht

Ich bin über diesen Beitrag sehr erfreut. Prof Bade spricht sehr nüchtern aus, was auch gänzlich meine Meinung ist. Insbesondere trifft dies seine Aussagen zu den verpflichtenden Integrationskursen und zum Anerkenntnis unserer "elementaren Spielregeln". Ich gehe davon, dass damit im wesentlichen unser GG gemeint ist.
ich würde es begrüßen, wenn alle berechtigten Asylbewerber auf das GG verpflichtet werden und wer dies nicht will, kann Asyl für sich nicht beanspruchen

Parallelgesellschaften

Die Integration von Asylberechtigten gelingt also in der dritten Generation, auch wenn sich die Neubürger nicht aus dem Kontext der Ursprungskultur gelöst haben? Parallelgesellschaften mit Paralleljustiz verzögern Integration nur? Wirklichkeitsverweigerung schützt vor der Wahrnehmung der Realität, z.B. in Neukölln-Nord oder Meulenbek!