Europäische Union

Michael Roth: „Das Thema Rechtsstaatlichkeit gehört zum Wesenskern der EU.“

Kai Doering17. November 2020
Europastaatsminister Michael Roth: Rechtsstaatlichkeit ist mehr als ein Wert von vielen – sie ist die Garantie für all unsere Grundwerte und Freiheiten.
Europastaatsminister Michael Roth: Rechtsstaatlichkeit ist mehr als ein Wert von vielen – sie ist die Garantie für all unsere Grundwerte und Freiheiten.
Die Bundesregierung will während ihrer Ratspräsidentschaft die Rechtsstaatlichkeit in der EU stärken. Wichtiges Instrument dafür ist der „Rechtsstaatscheck“. Europastaatsminister Michael Roth erklärt, wie er funktioniert und warum alle EU-Staaten gleich behandelt werden.

Über Rechtsstaatlichkeit wird schon lange in der EU gesprochen. Im Großen und Ganzen hat man Regierungen wie in Polen und Ungarn aber mehr oder weniger gewähren lassen. Wieso kommen Rechtsstaatscheck und Rechtsstaatskonditionalität gerade jetzt?

Widerspruch! Es laufen bereits viele Verfahren beim Europäischen Gerichtshof gegen beide Länder. Inzwischen gibt es Gerichtsurteile, die beispielsweise Einschränkungen der Unabhängigkeit der Justiz in Polen und der Wissenschaftsfreiheit in Ungarn feststellen. Es laufen auch sogenannte „Artikel 7-Verfahren“ gegen sie, weil wir der Meinung sind, dass Grundwerte der EU dort in erheblicher Gefahr sind. Und die jüngst von Orbán angekündigten Verfassungsänderungen, um Rechte von LGBTIQ Familien massiv zu beschränken, sind in der EU und vonseiten der Europäischen Kommission deutlich kritisiert worden. Aber wir haben eben auch festgestellt, dass wir unseren Instrumentenkasten zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit in der EU noch erweitern müssen.

Als EU-Ratspräsidentschaft hat sich Deutschland, insbesondere auf Druck der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in der Bundesregierung, dazu verpflichtet, die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit zu einer Priorität zu machen und neue Instrumente auf den Weg zu bringen. Hier liefern wir jetzt. Denn die Rechtsstaatlichkeit ist mehr als ein Wert von vielen – sie ist die Garantie für all unsere Grundwerte und Freiheiten. Demokratie und Rechtsstaat sind untrennbar verbunden.

Welche Länder stehen aus Ihrer Sicht zurzeit besonders im Fokus?

Die Kernidee des Rechtsstaatschecks ist es ja, alle Mitgliedstaaten gleich zu behandeln und sie zu überprüfen. Denn nirgendwo ist alles perfekt, und wir können alle gegenseitig voneinander etwas lernen.

Unser Rechtsstaatscheck besteht aus zwei Elementen: Einmal sprechen wir über die generelle Lage der Rechtsstaatlichkeit in der EU, das haben wir beim vergangenen Rat im Oktober gemacht. Aber der zweite Teil ist das wirklich Neue am Dialog: Wir wollen über die Lage der Rechtsstaatlichkeit in jedem einzelnen Mitgliedstaat sprechen. Und zwar der Reihe nach. Ausnahmslos. Das gab es so noch nie in der EU. Die Gleichberechtigung aller Länder ist uns dabei wichtig. Aber das heißt natürlich nicht, dass es in allen Ländern gleich gut um die Rechtsstaatlichkeit bestellt ist. Die Unterschiede werden natürlich klar zutage kommen und auch deutlich benannt. Es ist ein Dialog, offen, kritisch, aber eben auch konstruktiv!

Der Rechtsstaatscheck soll mit keinerlei Strafen verbunden sein. Was kann er dann überhaupt leisten?

Der Rechtsstaatsdialog ist nun ein weiteres Instrument, um endlich wieder zu einem gemeinsamen Verständnis der Rechtsstaatlichkeit zu kommen. Denn das Thema Rechtsstaatlichkeit gehört zum Wesenskern der EU. Es spaltet uns derzeit, muss uns aber einen, will die EU als Werte- und Rechtsgemeinschaft wirklich ernstgenommen werden. Wir wollen aber wieder zu einem kooperativen und konstruktiven Verhältnis unter Partnern kommen. Der neue Dialog ist präventiv ausgelegt. Er soll also wachrütteln, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist. Wir sorgen als EU-Ratspräsidentschaft dafür, dass das Thema Rechtsstaatlichkeit kontinuierlich ganz oben auf der europäischen Tagesordnung bleibt. Denn nur so stärken wir europäische Werte nach innen und können glaubwürdig unsere Werte nach außen vertreten.

Alle sechs Monate sollen fünf Staaten dem Check auf Grundlage eines Berichts der Kommission unterzogen werden. Jedes Land wird also etwa alle zweieinhalb Jahre überprüft. Reicht das aus?

Das werden wir sehen. Aber hier gilt Gründlichkeit vor Schnelligkeit: Würden wir alle 27 Mitgliedstaaten in einer Ministerratssitzung besprechen, wäre das zwangsläufig oberflächlicher und weniger wirksam. Stattdessen wollen wir eine detaillierte Diskussion über jedes Land führen. Wir beginnen nun in alphabetischer Reihenfolge mit Belgien, Bulgarien, der Tschechischen Republik, Dänemark und Estland. So können wir auf jedes Land einen sehr präzisen Blick werfen, die Eigenheiten verstehen und vielleicht sogar etwas daraus lernen und es bei uns noch besser machen. Estland hat uns in Sachen Digitalisierung der Justiz bestimmt einiges voraus. Und wir können auch frühzeitig erkennen, wo sich etwas Problematisches entwickelt. Noch einmal: Der Check soll präventiv wirken.

Welche Rolle spielt der Rechtsstaatscheck im Zusammenspiel mit der Möglichkeit, bei Rechtsstaatsverstößen, EU-Gelder zu kürzen?

Das sind zwei Instrumente,  die wir als Ratspräsidentschaft erstmals einführen werden. Ein toller Erfolg! Aber es sind ganz unterschiedliche Instrumente, die sich ergänzen. Der neue Rechtsstaatsmechanismus soll greifen, wenn Staaten die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit verletzt haben. Die EU-Kommission macht einen Vorschlag, der dann vom Ministerrat mit qualifizierter Mehrheit, also 15 Staaten, die mehr als 65 Prozent der Bevölkerung repräsentieren, beschlossen wird. Das kann dann für die jeweiligen Länder der betroffenen Staaten ziemlich schmerzhaft sein.

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Kommentare

Ich erinnere an meine

Ich erinnere an meine Kommentare vom 05. u. 07.11.2020:

Allzu lange Zeit haben sich die Mitgliedsstaaten, insbesondere auch die EVP, von den Orbans in Ungarn und Polen über den Tisch ziehen lassen, und diese werden weiterhin die Regelung unterlaufen, so dass sie wirkungslos bleib

Schon Helmut Schmidt hatte die voreilige Aufnahme der osteuropäischen Länder in die EU kritisiert, und den Schaden, dass die Visegrad-Staaten zwar gerne die Gelder kassieren, aber sich weder an rechtsstaatliche Regeln halten noch Flüchtlinge aufnehmen, haben andere über viele Jahre in Kauf nehmen müssen.

In meinem Buch "Ist Europa gescheitert?", das vor vier Jahren erschienen ist, hatte ich bereits auf diese Probleme hingewiesen.

Wie kann die EU aufgrund des überholten Einstimmigkeitsprinzips Sanktionen gegen Länder, die sich nicht an die Rechtsstaatlichkeitsprinzipien halten, durchsetzen. Die Gründe, die für eine Aufnahme in die EU gelten, müssten gleichermaßen für einen Verbleib in der EU Anwendung finden.

Nicht zuletzt wegen der Probleme, die die EU mit Polen und Ungarn, wo möglich auch mit anderen, hat, sollte sie von der Aufnahme weiterer Staaten, insbesondere Türkei und Ungarn absehen

Es bleibt die Frage zu klären

Es bleibt die Frage zu klären, aufgrund welcher Interessen die Osterweiterung der EU vorangetrieben wurde und wird. Schließlich handelte es sich um Staaten, die von der wirtschaftlichen Seite her überhaupt nicht mit den Gründerstaaten auf einem Level waren und sind. Hängt das evtl. mit der EU als Lobbyverein transatlantischer Interessen zusammen? Lobbyismus kann m.E. auch schlicht mit Korruption übersetzt werden.

dann klären wir das

mal. Bei der Erweiterung geht es im Wesentlichen darum , d e n Markt zu erweitern, den man so regulieren kann, dass anderen Markteilnehmern den Zugang erschwert bzw. unmögich gemacht wird. Da ist Polen , um ein Beispiel zu nennen, nach Fläche und Bevölkerungszahl natürlich interessant gewesen, ob überhaupt und wie lange ggf demokratische Traditionen sich entwickeln konnten, ist nachrangig, nice to have, aber es geht auch ohne, wie wir sehen.
Vielleicht kann sich der Genosse Verheugen dazu noch mal äussern, der war ja ganz beso..... von seiner Erweiterung, die , das wissen wir jetzt, den Anfang vom Ende der EU markiert.

Die Märkte im Osten zu

Die Märkte im Osten zu erweitern mag ein Ziel gewesen sein und ist es sicher immer noch. Ging es nicht vordergründig darum einen, s.g. Cordon Sanitaire um Russland aufzubauen, somit Russland einzuhegen, einzukreisen und zu isolieren und natürlich von Kerneuropa fern zu halten? Unter diesem Gesichtspunkt der Osterweiterung haben wir die 2%igen Militärausgaben, was die Amis stets fordern, schon für Jahre im voraus übererfüllt, wenn man die Kosten für den Steuerzahler betrachtet, die die Osterweiterung mit sich gebracht hat. Für mich ist die EU nichts anderes, als eine Dependance der US-Globalisten/Imerialisten.

Ungarn Polen

U.a. wurden diese Staaten mit ihrer jeweils ultra-rechtskonservativen Regierung auch und besonders deshalb in die EU
aufgenommen, um dem per se "bösen Hegemon" Russland in die Parade zu fahren. NEIN - Russland ist bei Weitem
keine Vorzeige-Demokratie. Und kein Unrecht, das von Russland begangen wird, kann in Recht verkehrt werden.
Aber Russland steht mit seinen Truppen nicht in Warschau, Budapest, Berlin, Paris, Madrid, Lissabon, London.
Die EU und die USA haben aber nach 1989 ständig den Druck auf Russland erhöht.

Ungarn Polen

Ja, Helmut, das sind viele traurige Tatsachen, an denen leider gerade aktuell auch die SPD mit Zustimmung zur Beschaffung von 38 Eurofightern und der Anschaffung von Kampfdrohnen sowie den Attacken des Außenministers gegenüber Russland wegen der bisher immer noch unbewiesenen Navalny-Vergiftung beteiligt ist.

Ich habe vor ca. einem Monat deshalb einen offenen Brief an Maas geschickt (in HdS veröffentlicht), aber bisher leider keine Antwort erhalten, es wird wohl auch keine kommen.

Hinter den Schlagzeilen

Ja Peter - ich habe Deinen offenen Brief gelesen und kommentiert.

Maas ist mit Sicherheit kein

Maas ist mit Sicherheit kein Leuchtturm, was seine Fähigkeiten als AM anbelangt. Hätte dein offener Brie nicht auf an Angela Merkel gerichtet werden müssen? AM Maas handelt doch auch, in der Umsetzung zwar schlecht, weisungsgebunden.

maas in

war nach dem Ausscheiden LaFontaines im LV Saarland Führend, und nach Proporzgesichtspunkten war er damit dran, dh. ausreichend qualifiziert für jedes Ministerium . Natürlich reicht das nicht, aber so ist es nun mal organisiert, nicht nur bei der SPD

Korrektur

Im letzten Satz muss es natürlich "Ukraine" statt "Ungarn" heißen.

Ungarn und Polen müssen eine Warnung sein !!!

Die Wandlung zahlreicher Staaten hin zum Abbau demokratischer Rechte und Funktionen muss gerade uns in Deutschland (ebenso wie "unsere" eigene dunkle Historie) eine Warnung sein.
Wenn die zum Funktionieren einer Demokratie notwendigen, systemrelevanten Bereiche wie Justiz, Polizei, Bildung, Sozialarbeit etc. personell ausgedünnt werden und der einst unabhängige Journalismus übermässig kommerzialisiert wird, dass am Ende auch er wie zahlreiche digitale "Medien" aus Gewinnsucht nur noch Filterblasen bedient, wäre es nicht zu verwundern wenn ein deutscher Trump/
Orban-Verschnitt einmal das Sagen bekommt !!!
Es dürfte inzwischen eine relativ hohe Dunkelziffer an potentiellen Sympathisanten für solche Möchtegern-Diktatoren geben!
Die demokratischen Strukturen müssen auch in Deutschland und nicht nur was die EU betrifft (Mehrheitsprinzip statt Veto f. Autokraten!) in allen systemrelevanten Bereichen gestärkt werden! Der massive Sparkurs (vor Corona-Zeit) gefährdet jetzt die Funktionsfähigkeit unserer Demokratie(en) ! Die Demokratie benötigt finanzielle Mittel die wir nicht der gesamten jungen und kommenden Generation aufbrummen können. Es muss endlich umverteilt werden !!!

Offensichtlich

Die "Problemländer" mussten ja auch noch gleich in die NATO ! Da hat sich die EU zur Filiale gemacht, das zeigt auch ihre Sanktionspolitik gegen Russland und sind wir ehrlich, auch in Belarus geht es den wirtschaftlichen EU-Akteuren doch nicht um Demokratie.
Zeigen wir aber nicht so sehr auf die Lage der Demokratie in Polen oder Ungarn, denn auch hier hapert es mächtig (das "Infektionsschutzgesetz wird ja auch von einigen ermächtigungsgesetz genannt, die EU Düngeverordnung wird nicht umgesetzt ....). Die diskrimimierung der Russen in Estland oder Lettland liegt den Demokratiewahrern wohl nicht so am Herzen, zumindest kommt das nicht nur in diesem Artikel nicht vor.
Wir dürfen aber auch nicht vergessen, daß mit dem EU Beitritt den Menschen in all diesen Ländern Hoffnungen und Versprechen gemacht wurden, die es zu erfüllen gilt. Die haben sich da nicht gedacht, daß sie als Lohnsklaven in der Fleisch-, Gemüse-, Transport- etc. etc. industrie ausgebeutet werden. Wieviele Klein- und Mittelbauern haben in diesen Ländern ihr Land an westliche Agrarkonzerne verloren ? Hat das die EU etwa befördert ?
11. Gebot: Du sollst nicht scheinheilig sein !

Rechtsstaatlichkeit

Leider konnte ich bisher noch nicht feststellen, inwieweit Deutschland als Ratspräsidentschaft bezüglich der Rechtsstaatlichkeit in der EU tatsächlich erfolgreich war.

Auch würde mich weiter interessieren, was die deutsche Ratspräsidentschaft bisher überhaupt erreicht hat.

Rechtsstaatlichkeit

Zum Thema gehört m.E. auch die Friedenspolitik. Diese wird jedoch leider - ausgerechnet zur Zeit der Corona-Pandemie, in der wir andere Probleme haben - von AKK weitgehend fast zerstört. Sie will Kampfdrohnen durchsetzen, sie will Eurofighter beschaffen, sie (ausgerechnet als Saarländerin) wettert gegen Frankreich und biedert sich den USA an. Sogar im Pazifik soll sich die Bundeswehr engagieren.

Dabei wird das Geld für die Aufrüstung doch dringend bei uns und zur Unterstützung der armen Länder, auch in Europa, gebraucht. Dass zurzeit Bundeswehrsoldaten in den Gesundheitsämtern eingesetzt werden, ist wesentlich sinnvoller als bei Kriegseinsätzen, bei denen Leben vernichtet wird, während es in Gesundheitsämtern um den Lebenserhalt geht.

Eine derartige Kriegspolitik, die gerade auch in Europa ausgerechnet von deutschen Politiker*innen forsiert wird, steht auch im absoluten Gegensatz zur Rechtsstaatlichkeit. Denn die EU wurde nach dem Krieg gegründet, um Frieden zu stiften, sich gegenseitig zu helfen und nicht, um Kriege zu führen!!!

gelöscht

Dieser Kommentar wurde gelöscht, weil er gegen Punkt 6 unserer Netiquette verstößt.

Menschenrechte auch für Julian Assange

Auch wenn Großbritannien nicht mehr zur EU gehört: Schön & gut, was Michael Roth hier schreibt, aber wenn die Partei, der ich seit fast 50 Jahren angehöre, nicht bald ihre Stimme erhebt gegen die "langsame Ermordung" von Julian Assange in London, dann verstehe ich die Welt nicht mehr. Lest diesen Artikel ... keine fake news: https://www.derstandard.at/story/2000121079416/skandalprozess-in-london-...