
Herr Müller, am Montag wird der erste Zwischenbericht zur Suche nach einem Atommüll-Endlager erwartet. Kommen jetzt die Proteste der Anti-Atomkraft-Bewegung zurück?
Möglicherweise. Jetzt beginnt die heiße Phase. Ich höre leider von verschiedenen Seiten, dass die Kriterien, die wir in der Endlager-Kommission im Jahr 2016 vorgegeben haben, nicht im vollen Umfang berücksichtigt werden.
Was heißt „nicht im vollen Umfang“?
Wir haben damals bestimmte Voraussetzungen beschrieben, beispielsweise dass es über der Lagerstätte ein ausreichendes Deckgebirge geben muss. Auch brauchen wir ausreichende wissenschaftliche Daten, um zum Beispiel mögliche Senkungen zu bewerten. Oder dass die Lagerplätze so groß sein müssen, dass die Castor-Behälter maximal 100 Grad Außenwärme entwickeln. Es gibt Hinweise, dass das nur unzureichend berücksichtigt wird. Wir haben aber in der Endlager-Kommission – und das wurde so auch im Bundestag bestätigt – gefordert, dass die Empfehlungen eins zu eins umgesetzt werden.
Was mich ärgert, weil ich mich massiv, aber leider erfolglos in der Kommission um ein Ende von Gorleben eingesetzt hatte, aber auch dabei z. B. von Robert Habeck nicht unterstützt wurde, das ist, dass der Standort überhaupt noch im Rennen war. Es ist der einzige Ort, der intensiv behandelt wurde, es ist keine „weiße Landkarte“. Aber an diesem Ort wurde getrickst und getäuscht. Deshalb hätte er von Anfang an ausscheiden müssen. Es ist gut, dass vor allem Matthias Miersch, der in dieser Frage immer an meiner Seite war, jetzt eine Ende von Gorleben erreichen konnte. Umso mehr müssen wir wachsam sein, dass sich das nicht wiederholt.
(Anmerkung der Redaktion: Wir sprachen bereits am Freitag mit Michael Müller über die Endlagersuche, Medienberichten am Sonntag zufolge kommt Gorleben in dem Zwischenbericht als möglicher Standort nicht mehr vor. Dazu haben wir Michael Müller am Montag erneut befragt und die frühere Antwort ergänzt.)
Seitdem es Atomkraftwerke gibt, wird auch nach einem Endlager für den nuklearen Abfall gesucht. Warum sind wir nach Jahrzehnten noch so weit von einer Lösung entfernt?
Weil die Dimension der Aufgabe alle menschlichen Erfahrungen übersteigt. Zumal heute im Zeitalter der „kurzen Frist“, in der nur das Hier und Jetzt zu zählen scheint. Wir müssen für die Lagerung von Plutonium aber ein Sicherheitskonzept für eine Million Jahre planen. Das sind 40.000 Generationen! Die Atomforschung startete Mitte der 1950er Jahre unter den Bedingungen des zweiten Weltkriegs und des beginnenden Kalten Krieges. Es wurde verdrängt, da auch die zivile Nutzung gewaltige Risiken birgt und eine neuer Qualität von Verantwortung verlangt. Die gab es damals nicht und gibt es heute auch nicht.
Stattdessen gibt es immer wieder Stimmen, die die Atomenergie als sauber und klimaneutral bezeichnen – zuletzt die AfD in der Nachhaltigkeitswoche des Bundestags. Auch 2013 war noch die Rede von einer „Brückentechnologie“. Blödsinn oder berechtigt?
Das war und ist die Position derjenigen, die sich nie richtig mit dem Thema beschäftigt haben. Der Deutsche Bundestag hat sich schon zwischen 1988 und 1994 sehr intensiv mit der Frage beschäftigt, ob die Nuklearenergie eine Lösung des Klimaproblems sein kann. Die Klima-Enquete-Kommission des Bundestages aus Wissenschaftlern und Politikern hat sich über ein Jahr damit beschäftigt. Obwohl eine Mehrheit in der Kommission Anhänger der Nuklear-Energie war, wurde einstimmig festgestellt: Die nukleare Energieerzeugung kann nicht zur Lösung des Klimaproblems beitragen, ja erschwert sie systembedingt sogar, zum Beispiel weil keine Kraft-Wärme-Kopplung möglich ist.
Sie ist verbunden mit Großstrukturen und einer sehr geringen Effizienz. Insgesamt betrachtet hat sie sogar höhere CO2-Emissionen als ein modernes Gasturbinen-Kraftwerk. Damals war klar: Die Energieversorgung muss sowohl erneuerbar als auch effizient sein. Insgesamt muss es zu einer Effizienzrevolution kommen, die mit der Atomenergie nicht möglich ist.
Ein Atomkraftwerk hat eine hohe Reserveleistung und ist in seiner Unlogik auf einen hohen und steigenden Energieverbrauch ausgerichtet. Der Wirkungsgrad liegt bei nur rund 30 Prozent. Stattdessen brauchen wir eine dezentrale, hocheffiziente Energieerzeugung, basierend auf Erneuerbaren, sonst lösen wir das Klimaproblem nicht.
Am Freitag demonstrierten seit langem wieder „Fridays for Future“. Könnte die Klimabewegung auch die Endlagersuche für den Atommüll beeinflussen?
Bisher war es für sie kein zentrales Thema. Leider gab es sogar mal eine Stimme, die die Atomenergie als das „kleinere Übel“ ansah. Dabei gehört beides zusammen: Ausstieg aus den nuklearen und fossilen Energiestrukturen und Klimaschutz. Ich bin davon überzeugt, dass das auch die Grundlinie der „Fridays for Future“ ist. Sie wollen ein Zukunftsproblem lösen und es nicht mit einem anderen Zukunftsproblem beantworten.
Seit der Entdeckung der Kernspaltung 1938 haben wir vier Super-GAUs erlebt, zwei militärische und zwei zivile. Und oft genug gab es sehr kritische Situationen. Wir müssen deshalb lernen, mögliche Zukunftsprobleme in der Gegenwart verantwortungsbewusst in Entscheidungen einzubeziehen. Wir müssen wegkommen von dem bisherigen „Irrtumslernen“, weil wir uns Irrtümer nicht mehr leisten dürfen. Das verlangt das „Prinzip Verantwortung“, das für den Klimawandel ebenso gilt wie für die Atomkraft.
Wird es in Deutschland – oder woanders auf der Welt – in absehbarer Zeit ein sicheres Atommüll-Endlager geben?
In Skandinavien gibt es Endlager in Schweden und Finnland. Die entsprechen aber nicht den Kriterien, die wir in Deutschland gesetzt haben. Und sie sind mit einer Beteiligung der Bevölkerung abgelaufen, die ich für keinesfalls ausreichend ansehe. Der Beschluss wurde sehr früh von wenigen Leuten gefasst und damit sollten alle weiteren Entscheidungen abgedeckt sein – auf einer Halbinsel, die zu einem Großteil einem Energiekonzern gehört.
Wir müssen aus den Fehlern in Gorleben lernen. Man darf die Bürger und Bürgerinnen nicht erst befragen, wenn es nur noch um das Abnicken von Entscheidungen gehen soll, die auch noch als alternativlos hingestellt werden. Auch die Kriterien müssen von Anfang an transparent sein. Wenn der Bericht, den wir 2016 vorgelegt haben, berücksichtigt und umgesetzt werden würde, wären wir einen großen Schritt weiter. Aber das ist wohl nicht der Fall.
Wir haben die Verantwortung, unseren Atommüll in Deutschland sicher zu lagern. Das schließt auch ein, dass der Müll über einen längeren Zeitraum für mögliche bessere Lösungen oder aufgrund von Veränderungen auch wieder zurückgeholt werden kann.
Eine Erkenntnis aus der Katastrophe in der Asse?
Ja. Transparenz, fairer Umgang, klare Kriterien und Rückholbarkeit – das ist ganz wichtig. Was in der Asse in Verantwortung des Bundesforschungsministeriums passiert ist, kann ich nicht verstehen.
Fängt also der Prozess mit dem Zwischenbericht erst an?
Der Prozess läuft schon lief schon länger, er kommt jetzt wieder in eine entscheidende Phase. Das Interesse wird schlagartig zunehmen, wenn es um die potentiellen Lagerstätten geht.
Michael Müller war von 2014 bis 2016 einer der zwei Vorsitzenden der Kommission zur Lagerung hochradioaktiven Atommülls. Als Politiker war Müller von 1938 bis 2009 Mitglied des Deutschen Bundestag und zeitweise umweltpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion und stellvertretender Vorsitzender sowie von 2005 bis 2009 Staatsekretär im Bundesumweltiministerium. Er ist außerdem Vorsitzender der Naturfreunde Deutschlands.Der Gesprächspartner