Interview mit Martin Schulz

Merkels leere Worte helfen niemandem

Susanne Dohrn24. August 2011

vorwärts.de: Wir schlittern von einer Euro-Krise in die nächste - wo bleibt da das sozialdemokratische Projekt Europa?



Martin Schulz: Europa wird derzeit von Konservativen und Liberalen regiert. Sie stellen in 23 der 27 EU-Mitgliedsstaaten die Regierungschefs. Und in der Tat: Sie lassen bisher die nötige
politische Führung vermissen, um Europa und den Euro dauerhaft aus der Krise zu führen. Sie lassen sich von den Finanzmärkten treiben, reagieren mit immer neuen Rettungspaketen, anstatt selbst
das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen und eine umfassende Lösung der Krise anzupacken. Die SPD und die Sozialdemokraten in Europa haben hierfür klare Vorschläge gemacht: Eurobonds,

eine Finanztransaktionssteuer und ein Wachstumsprogramm für Krisenländer.

Sozial heißt Ausgleich zwischen Arm und Reich, heißt Chancen für Benachteiligte - geht das noch angesichts überschuldeter Staatshaushalte?

Klar ist, dass die Staatsverschuldung zurückgefahren werden muss. Und das nicht nur in den südeuropäischen Krisenstaaten, sondern auch hier bei uns in Deutschland. Es ist dann jedoch immer
noch eine Frage der politischen Priorität, wo gespart und wo weiter investiert wird. Wir als SPD sagen ganz klar: Die Investitionen in Bildung müssen unbedingt an erster Stelle stehen. Und
anstatt wie die Regierungsparteien Steuergeschenke an bestimmte Wählergruppen zu verteilen, brauchen wir hierfür dann auch Mehreinnahmen etwa durch einen höheren Spitzensteuersatz bei der
Einkommenssteuer.

Warum hat die EU eigentlich so ein schlechtes Image?

Die überwältigende Mehrheit der Menschen ist für die Idee eines einigen, gerechten und friedlichen Europas, aber auch unzufrieden mit der EU in ihrem jetzigen Zustand. Hinzu kommt
mittlerweile in vielen EU-Staaten ein gefährlicher Rechtspopulismus mit stark antieuropäischer Ausrichtung. Für umso wichtiger halte ich es, klar für Europa und die Europäische Union Flagge zu
zeigen und sich nicht wegzuducken. Uns allen muss klar sein: Wir brauchen - Deutschland zuallererst - Europa, die Europäische Union und den Euro, um in der globalen Welt von heute und morgen
unsere Interessen zu vertreten, unseren Wohlstand zu behaupten und überhaupt ein Wort im Konzert der großen Mächte mitzureden. Entweder Europa ist einig und dadurch stark. Oder es ist zerstritten
und bedeutungslos.



Wäre es nicht an der Zeit für die Vereinigten Staaten von Europa, oder zumindest für einen europäischen Finanzminister?

Die Erfahrung lehrt: Schon oft waren Krisen der europäischen Einigung Ausgangpunkt für einen neuen Integrationsschritt und letztlich mehr Europa. Ich will nicht ausschließen, im Gegenteil,
ich hoffe es sehr, dass Europa auch in dieser Krise hierfür die Kraft hat. Deutschland müsste dabei vorangehen. Bei Frau Merkel kann ich aber keine wirkliche Idee und keinen Gestaltungswillen für
mehr Europa erkennen. Auch das, was sie jetzt zusammen mit Sarkozy vorschlägt, ist kaum mehr als ein politisches Placebo. Frau Merkel spricht zwar jetzt von einer Wirtschaftsregierung, doch bei
ihr bleibt das eine Worthülse ohne echten Inhalt. Dabei ist klar: Wir brauchen mehr Vergemeinschaftung gerade im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik, durch eine echte europäische
Wirtschaftsregierung mit echter parlamentarischer Kontrolle. Deshalb fordern wir eine echte europäische Wirtschaftsregierung. Und wir müssen zugleich eine große Zu-kunfts­vision wie die
Vereinigten Staaten von Europa weiter hochhalten.

Braucht die EU eigene Einnahmen?

Vor allem brauchen wir jetzt dringend eine europäische Finanztransaktionssteuer auf Finanzspekulationen, deren Mittel für ein europäisches Wachstumsprogramm in den Krisenstaaten genutzt
werden können. Das wäre ein sinnvoller Schritt nach vorn.

Wie können die weniger produktiven Länder Europas zukünftig wieder konkurrenzfähiger werden?



So wichtig es ohne Zweifel ist: Sparen allein wird nicht zum Erfolg führen. Ohne Wachstum ist ein nachhaltiger Schuldenabbau nicht möglich. Deshalb brauchen wir ein europäisches
Wachstumsprogramm, das seinen Namen verdient.

Interview: Susanne Dohrn

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