In Frankreich gibt es nur wenige Menschen, die eine gute Meinung von Europa haben. Franzosen sehen die EU-Finanzkrise als ein deutliches Versagen der Führer der 27 Mitgliedsstaaten. "Europa verharrt in einem Zustand des Zauderns!“ sagt der Philosoph André Glucksmann. Der linksextreme Parteichef Jean-Luc Mélenchon ist felsenfest davon überzeugt, dass EU-Stabilitätspakt gleich Austerity und Misere für die 350 Millionen Europäer bedeutet.
Eigentlich hat nur der linke Flügel der sozialistischen Regierungspartei eine Europadebatte gefordert. Präsident Francois Hollande kam es gar nicht in den Sinn, der Nationalversammlung sein Europakonzept vorzulegen. Immerhin: Ihm ist zu verdanken, dass ein Wachstumskapitel in den EU-Stabilitätspakt aufgenommen wurde. "Europa muss sich reorientieren,“ fordert er. Er will seine Gedanken noch vor dem 2. Oktober, wenn das Parlament den Pakt ratifiziert, äußern.
Es geht um die Zukunft des Hauses Europa
Der Linksabgeordnete Christian Paul spricht vielen Parteifreunden aus dem Herzen: "In der Europapolitik gehe es drunter und drüber. Wir müssen wieder Lust auf Europa haben!“ sagt er. "Unsere Landsleute müssen für die Zukunft des Hauses Europa mobilisiert werden“. Einfach die Abgeordneten zur kritiklosen Stimmabgabe auffordern, mault die sozialistische Senatorin Marie-Noelle Lienemann, reiche nicht. Sie gehört dem linken Flügel von etwa 22 Kollegen an. "Wir sind kein Stimmvieh!“ Die Fraktionsanweisung, geschlossen für den Vertrag zu stimmen, ignoriert sie: In der Nationalversammlung gehe es um eine Gewissensentscheidung. Eilig beschloss Premier Jean-Marc Ayrault, sich in seiner Eröffnungsrede in der Nationalversammlung besonders an die Abweichler zu wenden.
Werden immer mehr wichtige Beschlüsse, die das Schicksal Europas betreffen, außerhalb der Kammer getroffen? Soll es kein demokratisches Ringen mehr um weitgreifende Entscheidungen geben, die alle Franzosen angehen? Anders als der Bundestag in Deutschland kann man mit Blick auf das parlamentarische Leben in der "Assemblée Nationale“ von einem Dornröschenschlaf sprechen. Ihre Rechte sind begrenzter als die in Berlin. Neugewählte Staatspräsidenten haben am Anfang ihrer Amtszeit gern versprochen, grundlegende Reformen und Beschlüsse von der Kammer absegnen zu lassen. Hollande will keine Ausnahme machen. Was die Abgeordneten seiner Fraktion eher akzeptieren, ist die neue Distanz zu Deutschland in der Europapolitik.
Nullbock auf deutsches Modell
Hollande haben die ewigen Hinweise seines Amtsvorgängers Nicolas Sarkozy genervt, in der Wirtschaftspolitik die Deutschen als Modell zu sehen. Dass nun in Frankreich ein anderer Ton, zum Beispiel gegenüber Griechenland, angeschlagen wird als in Deutschland, entspricht dem Konsens in Frankreich: Mehr Empathie, mehr Toleranz gegenüber Griechenland, Italien und Spanien. Die Achse Paris-Berlin habe den Süden weitgehend ausgeblendet, sagt ein Berater des Präsidenten. Nur wenige warnen Hollande davor, nur noch Distanz zur Bundeskanzlerin zu suchen. Aber es fällt auch den Parteigängern des Staatschefs auf, dass der Kern Europas nicht mehr der deutsch-französische Motor, sondern ein erweiterter Kern, also mit Großbritannien, Italien und Spanien, sein soll.
Glucksmann spricht vielen aus dem Herzen. Europa reagiere in der Krise kopflos. In Ungarn und Rumänien bräche alter europäischer Nationalismus auf. Von gemeinsamen Werten ist nicht mehr, oder nur selten, die Rede. Es fehle eine globale Perspektive. Der französische Philosoph erinnert daran, dass Europa weltweit ein Leuchtturm der Freiheit und Menschenrechte sei. Wirtschaftswissenschaftler Frédéric Bonnevay erkennt eine gefährliche Ermüdung der Völker, was wohl mit der Überalterung zusammenhängt.
Europäische Zwangsjacke
Demokratische Abstimmung fordern zwei Extrempolitiker, Mélenchon von der Linksfront und Marie Le Pen vom rechtsradikalen Front National. Über den EU-Stabilitätspakt müsse per Volksbefragung abgestimmt werden, fordern sie. Die Franzosen würden in eine europäische Zwangsjacke gesteckt. Dumpfe antideutsche Ressentiments schwingen da mit: Von einem Diktat aus Berlin, von der Eisernen Kanzlerin Merkel ist die Rede. Man möchte nicht nach der deutschen Pfeife tanzen! Solche Töne werden Anfang Oktober in der Nationalversammlung wohl nicht zu hören sein. Wenn es schlecht läuft, kommt nicht einmal die Hälfte der Abgeordneten ins Plenum. Hollande und Ayrault werden bei der Ratifizierung trotzdem die Mehrheit haben. Wie gesagt: In Frankreich gibt es nur wenige Menschen, die eine gute Meinung von Europa haben.