Vergessene Sozialdemokrat*innen

Louis Kugelmann: Die „kleine graue Eminenz“ der SPD

Lothar Pollähne09. Januar 2023
Sozialdemokrat und Marxist: Louis Kugelmann
Sozialdemokrat und Marxist: Louis Kugelmann
Er pflegte Freundschaften zu Friedrich Engels und Wilhelm Liebknecht. Gemeinsam mit Karl Marx überarbeitete er dessen „Kapital“. Vor 121 Jahren starb der Sozialdemokrat Louis Kugelmann.

Am 10. Juni 1867 schreibt Karl Marx einen Brief an einen lieben Freund in Hannover und entschuldigt sich: „Die Verspätung dieses Briefes bringt mich in den mehr oder minder ‚gegründeten Verdacht‘ ein ‚schlechter Kerl‘ zu sein. Aber Sie und Ihre liebe Frau kennen mich jezt wohl hinreichend, um Briefsünden bei mir normal zu finden. Ich war trotzdem jeden Tag bei Ihnen. Den Aufenthalt in Hanover zähle ich zu den schönsten u. erfreulichsten Oasen in der Lebenswüste.“ 

Vier Wochen lang, vom 16. April bis zum 15. Mai, weilt Karl Marx in Hannover. Der damals lieb gewonnene Freund heißt Louis Kugelmann. Beide überarbeiten die Korrekturfahnen des ersten Bandes von Marx' „Kapital“. Die Freundschaft dauert zwölf Jahre lang und der Briefwechsel zwischen Marx und Kugelmann ist in die sozialistischen Geschichtsbücher eingegangen. Louis Kugelmann kommt dort bestenfalls als Randnotiz vor, obwohl er ein wichtiger Propagandist Marx’scher Ideen ist.

Erst Kaufmann, dann Arzt

Louis Kugelmann wächst in Lemförde im Landkreis Diepholz auf, das seinerzeit ein Flecken mit 750 Einwohner*innen ist. Lesen und Schreiben lernt er bei der Mutter. Als Louis sechs Jahre alt ist, engagieren die Eltern einen Hauslehrer. Dies zumindest behauptet seine Tochter Franziska. Früh lässt ihm seine Mutter Flötentöne beibringen, weil in der Umgebung kein geeigneter Klavierlehrer zu finden ist. Im Alter von neun Jahren wird er in die Familie seiner Stiefschwester nach Preußisch-Oldendorf geschickt; dort besucht er eine private Lehranstalt. Seine schulische Bildung beendet er in Gronau an der Leine.

Louis Kugelmanns Wunsch, Arzt zu werden, lässt sich nicht sofort umsetzen, weil der Vater darauf besteht, dass der Sohn den Kaufmannsberuf ergreift. In einer „Provinzstadt Westfalens“, wahrscheinlich ist dies Minden, verbringt Kugelmann seine Lehrzeit. Seine erste Arbeitsstelle tritt er 1845 in einem Kölner Handelshaus an. Anfang 1849 zieht Louis Kugelmann nach Minden zurück und bereitet sich auf das Abitur vor, das er als Externer 1850 in Lingen besteht. Von 1850 bis 1854 studiert Kugelmann Medizin in Bonn und Göttingen; dort wird er promoviert. Nach kurzer Tätigkeit als Assistenzarzt in Berlin lässt sich Louis Kugelmann Anfang 1856 als Arzt in Hannover nieder und macht sich einen Namen als fortschrittlicher Gynäkologe.

Als „Demokrat“ unter Beobachtung der Polizei

Dass sich Louis Kugelmann schon während seiner Kölner Jahre politisch betätigt, ist nicht erwiesen. Denkbar wäre es, auch wenn Kugelmanns eigene Einlassung, „seit ich denken gelernt habe, war ich mit ganzem Herzen den Bestrebungen der Arbeiter beigesellt“, ein wenig selbstgefällig klingt. Verbürgt allerdings ist, dass sich Louis Kugelmann im Revolutionsjahr 1848 im Düsseldorfer Arbeiterverein engagiert und hernach als Mitglied im „Bund der Kommunisten“ unter polizeiliche Beobachtung fällt.

Er gilt als „Demokrat“ und verliert nach dem Eingreifen des Hannoverschen Generalpolizeidirektors Karl Georg Ludwig Wermuth, eines notorischen „Kommunistenfressers“, seinen Job als Betriebsarzt bei der mechanischen Weberei im damals eigenständigen Linden bei Hannover. Aufgrund seiner langjährigen Bekanntschaft mit der Schriftstellerin Bertha Markheim aus Rodenberg bei Hannover kann Kugelmann Kontakt zu Karl Marx in London aufnehmen.

Änderungen am „Kapital“

1867 wird er Delegierter zum zweiten Kongress der Internationale, der vom 2. bis zum 8. September in Lausanne stattfindet. Zu dieser Zeit steht Kugelmann in freundschaftlichem Kontakt mit Friedrich Engels, Ferdinand Freiligrath und Wilhelm Liebknecht. Nur in Hannover hat er wenige politische Freunde, da der Arbeiterbildungsverein noch sehr kleinbürgerlich geprägt ist und Kugelmann mit seinen „marxistischen“ Auffassungen dort als Außenseiter gilt.

Am 16. April 1867 kommt Karl Marx, aus Hamburg anreisend, nach Hannover, um Korrekturen am ersten Band seines „Kapital“ vorzunehmen. Kugelmann beteiligt sich an dieser Arbeit und überzeugt Marx, einige Änderungen vorzunehmen. Nach dem Erscheinen des ersten Bandes des „Kapital“ wird Louis Kugelmann zum wichtigsten Propagandisten des bahnbrechenden Werkes in deutschen Landen und beeinflusst so den Gründungsparteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, der vom 7. bis zum 9. August 1869 in Eisenach stattfindet.

Am 18. September 1869 kommt Karl Marx in Begleitung seiner Tochter Jenny zum zweiten Mal nach Hannover. Im Mittelpunkt der Gespräche stehen der Freiheitskampf der Iren und die Weiterentwicklung der Arbeiterbewegung. Außerdem kümmert sich Louis Kugelmann um Marx' labilen Gesundheitszustand. Ein Treffen zwischen Karl Marx und Wilhelm Liebknecht, das Kugelmann avisiert hatte, kommt nicht zustande, weil Liebknecht mangels Immunitätsschutzes preußisches Staatsgebiet nicht betreten kann.

Auch als Sozialdemokrat bleibt er Marxist

Mit Datum vom 10. August 1874 erreicht Louis Kugelmann ein Brief aus England, in dem Karl Marx ankündigt: „Ich kann nicht von hier abreisen vor dem 15. August (Sonnabend) und werde wohl 4 Tage bis zum Bestimmungsort brauchen, da ich Tussy nicht zu zu viel anstrengen darf.“  Der Bestimmungsort ist Karlsbad, wo sich Marx auf Friedrich Engels Anraten einer Kur unterziehen soll. Tussy ist der Spitzname von Marxens Tochter Eleanor, die ebenfalls kränkelt. Nach 14 Tagen schreibt der Privatier Charles Marx an seinen lieben Fred Engels, dass ihm Kugelmann auf den Geist gehe. „Dieser Mensch ennuyiert mich mit seinen Gemütsquengeleien – oder Lümmeleien –, womit er sich und seiner Familie grundlos das Leben verbittert.“

Nach dem Kuraufenthalt in Karlsbad gibt es keine weitere bekannte Korrespondenz zwischen Louis Kugelmann und Karl Marx mehr. Kugelmann bleibt aber in Kontakt mit Friedrich Engels und befreundet sich als „kleine graue Eminenz“ mit den führenden Sozialdemokrat*innen der 1890er Jahre. Besonders eng ist sein Kontakt zum Berliner SPD-Vorsitzenden Paul Singer. Louis Kugelmann bleibt, auch als Sozialdemokrat, zeitlebens Marxist und wettert gegen Bernstein und andere Revisionisten.

Als die SPD ihren Reichsparteitag im Oktober 1899 in Hannover abhält, nimmt Louis Kugelmann regen Anteil an den Debatten. August Bebel, Wilhelm Liebknecht und Karl Kautsky sind Gäste in Kugelmanns Haus. Kautsky zeigt er die Briefe, die er von Karl Marx erhalten hat. Wahrscheinlich nach dem Tode Wilhelm Liebknechts übergibt Louis Kugelmann die Briefe an Kautsky, verbunden mit der Bitte, diese alsbald zu veröffentlichen. Dies geschieht, zumindest teilweise, in der Theoriezeitschrift der SPD, „Neue Zeit“. Die erste Gesamtausgabe besorgt 1905 der russische Sozialdemokrat Wladimir Iljitsch Lenin. Nach längerer Krankheit, die auch die Aufgabe seines Berufes bedingt, stirbt Louis Kugelmann am 9. Januar 1902 in Hannover.

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