Inklusion

Lesen und Schreiben: Warum die Einfache Sprache die ehrlichste Sprache ist

Uwe Roth29. Oktober 2015
Lesen
Lesen bedeutet nicht unbedingt auch verstehen: Die Einfache Sprache kann Abhilfe schaffen.
Lesen und Schreiben sind der Schlüssel zu gesellschaftlicher Teilhabe. Doch immer mehr Menschen fällt beides schwer. Die Einfache Sprache schafft Abhilfe. Ein Plädoyer

Vielen Menschen fällt das Lesen schwer. Sie haben Probleme mit schwierigen Begriffen. Die Sätze sind lang. Die Leser bringen einen Satz nicht zu Ende, weil viele Kommas verwirren. Sie lesen einen schweren Satz wieder und wieder, bis sie den Inhalt verstehen. Man nennt es Inhalt, was in einem Satz steht.

Wenn man mit jedem Satz kämpfen muss, hat man zum Lesen bald keine Lust mehr. Schlecht-Leser hören auf mit dem Lesen. Dann verlernen sie das Lesen mit der Zeit fast völlig.

Abhilfe?

Es gibt die Leichte und Einfache Sprache. Die ist für Menschen gedacht, die Probleme mit dem Lesen haben.

Lesen wie Kinder in der zweiten Klasse

Die Leichte Sprache ist für Menschen da, die kaum Lesen können. Die etwa so lesen wie Kinder in der ersten oder zweiten Schulklasse. Einfache Sprache ist gleich dem Lesen der Kinder in der dritten und vierten Schulklasse.

Die wichtigsten Regeln sind kurze Sätze und einfache Wörter. Die Schrift muss größer sein, die Zeile kurz. Wörter, die für das Verstehen unwichtig sind, fallen weg. Die deutsche Sprache hat viele solcher Wörter. Man nennt sie Füllwörter wie „auch“ oder „nur“.

Die Regeln sind in den 1990er-Jahren in den USA gemacht worden. Die Regeln sind für Menschen mit einer geistigen Behinderung gemacht worden. Viele wollen lieber „Menschen mit Lernschwierigkeiten“ genannt werden.

Man geht oft davon aus, dass sie gar nicht lesen können. Stimmt nicht! Die meisten lernen Lesen. Sie brauchen aber einfache Texte.

Einfache Sprache ist etwas Besonderes

Diese Regeln gibt es seit einigen Jahren auch für Deutsch. Sie sind nicht verbindlich wie die Grammatik. Ich finde die Regeln gut. Ich unterscheide nicht zwischen Leichter und Einfacher Sprache. Ich verwende den Begriff Einfache Sprache. Damit merken die Leute, es ist etwas Besonderes.

Ich bin Journalist. Mir geht es darum, verständlich zu schreiben. Die Regeln stehen nicht im Vordergrund. Beim Schreiben denke ich an diejenigen, die trotz ihrer Probleme mit dem Deutsch meinen Text lesen und verstehen sollen. Dies hinzubekommen, ist meine Aufgabe.

Es müsste Verständliche Sprache heißen. Da denkt aber jeder, das ist nichts Besonderes. Dass man verständlich schreibt, ist normal. Aber alle wissen, das stimmt so überhaupt nicht. Im Gegenteil: Die schwere Sprache gewinnt immer mehr Macht.

Einfache Sprache nicht nur für Menschen mit Behinderung

Nicht nur Menschen mit einer geistigen Behinderung können schwer lesen. Auch sehr alten Menschen fällt es schwer, einen normal geschriebenen Text zu verstehen. Für die vielen Flüchtlinge, die gerade Deutsch lernen, wäre es ebenfalls sehr hilfreich, Informationen in Einfacher Sprache auf Deutsch zu bekommen – und nicht in Behörden-Sprache oder Englisch.

Außerdem: Immer mehr junge Menschen, die in Deutschland geboren sind, lesen schlecht. Sie lehnen längere Texte ab. In Facebook oder WhatsApp haben sie ihre eigene leichte Sprache. Was sie fühlen, sagen sie mit einem smileyoder sad.

Niemand weiß, wie viele Menschen in Deutschland nicht gut oder kaum noch lesen können. Abgesehen von denjenigen, die Lesen und Schreiben nie gelernt haben. Wer weiß: Vielleicht gibt es schon mehr Menschen mit kleinen und großen Lese-Problemen als Menschen, die jeden Text verstehen.

Politiker reden in Schwerer Sprache

Ich sehe darin eine Gefahr! Der Staat macht immer neue Vorschriften in schwerer Sprache. Die Bürger bekommen das zu spüren. Zum Beispiel, wenn sie den Brief einer Behörde verstehen wollen. Die Briefe der Rentenversicherung sind eine Katastrophe. Politiker sprechen über viele Probleme in Deutschland und in der Welt. Sie kennen aber keine Lösung. Das dürfen sie nicht zugeben. Damit die Bürger es nicht merken, reden Politiker in schwerer Sprache.

Politik und Verwaltung müssen es annehmen, dass die Lese-Kompetenz vieler Bürger nach und nach verschwindet. Lese-Kompetenz heißt, wie gut jemand einen Text lesen und verstehen kann. Niemand wird das ändern können. In Deutschland konnte vor 150 Jahren kaum jemand lesen und schreiben. Vielleicht ist das eines Tages wieder so. Die Menschen sprechen mit ihrem Computer statt zu schreiben. Sie lassen sich vom Computer Texte vorlesen. Für Viele ist das schon normal.

Der Staat und die Politik müssen ihre schwere Sprache einfacher machen. Das ist für die Demokratie sehr wichtig. Nur dann werden die Bürger wieder in der Lage sein, sie zu verstehen. Das gilt auch für die Medien wie Zeitungen oder Fernsehen.

Die Einfache Sprache ist eine ehrliche Sprache

Ich weiß, das größte Problem sind die Juristen. Sie schreiben Gesetze und Regeln. Sie passen auf, dass sich alle an Gesetze und Regeln halten. Ich durfte Texte nicht in Einfacher Sprache schreiben, weil Juristen Nein gesagt haben. Mit ihrer schweren Sprache haben Juristen sehr große Macht über den Staat und die Politik. Und damit auch über die Menschen.

Die Einfache Sprache ist eine schlanke und deswegen sehr ehrliche Sprache. Einfache Sprache nimmt den Leser ernst. Er erkennt beim Lesen sofort die Information. Vielleicht ist genau das der Grund, warum es die Einfache Sprache so selten gibt.

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Kommentare

Keine Lösung für die breite Gesellschaft

Die Leichte bzw. Einfache Sprache ist sicherlich ein gutes Instrument für die im Artikel genannten Menschen mit Lernschwierigkeiten, sich auszudrücken und selber Texte zu verstehen.

Jedoch sehe ich in dieser sehr einfachen Art und Weise Deutsch zu sprechen und zu schreiben, keine generelle Alternative zur „schwierigen“ Sprache. Durch den sehr einfachen Stil der Einfachen Sprache verliert das Deutsche - ein Kulturgut! - an Präzision und nicht zuletzt auch an Ästhetik.

Richtig ist natürlich die Forderung, dass der Staat und die Politik in der Lage sein müssen, Bürgern Informationen klar und - insbesondere für genannte Menschen mit Lernschwierigkeiten - niederschwellig anzubieten.

Nichtsdestotrotz ist das nicht überall möglich. Formulierungen juristischer Texte werden nie der ganzen Allgemeinheit verständlich werden, dafür ist die Materie zu komplex; Ähnliches gilt für Vieles im Gesetzgebungsprozess.

Deswegen ist es wichtig, Menschen möglichst gute Sprachkenntnisse zu vermitteln. Ein allgemeines Absinken der Standards einfach hinzunehmen, wäre fatal!

Keine Lösung für die breite Gesellschaft

Sprache verändert sich ständig. Im Zeiten von Internet und Globalisierung bekommt Sprache eine andere Bedeutung. Die "Schönheit" der Sprache rückt mehr und mehr in den Hintergrund. In den Vordergrund rückt das schnelle Verstehen einer Information. Ihre Erwartung von einer Vermittlung möglichst guter Sprachkenntnisse ist relativ. Ein/e Deutschlehrer/in die aktuell Schüler aufs Abi vorbereitet, wird davon eine andere Vorstellung haben als eine Lehrkraft vor 50 Jahren. In der Zukunft werden die wenigsten Erwachsenen eine einwandfreie Lese- und Schreibkompetenz haben. Wenn ich die Leserbriefe an meine Redaktion betrachte, muss ich feststellen, wir liegen damit schon völlig im Trend. Und diese Menschen lesen noch Zeitung!

Keine Lösung für die breite Gesellschaft

Gerade wenn es sich offenbar zum Trend entwickelt oder, wie Sie schreiben, schon voll im Trend liegt, die Sprache zu vernachlässigen, sollte man dem entgegenwirken und nicht ein allgemeines Absinken der Standards wie ein Naturgesetz hinnehmen. Leisten sich andere Gesellschaften eine solche Laissez-faire-Einstellung? Ich weiß es nicht, ich glaube es nicht, aber selbst wenn, sollten wir nicht den Verlust der Fähigkeit, sich entsprechend zu artikulieren, bejubeln.

„Ich durfte Texte nicht in Einfacher Sprache schreiben [...].“

In welchem Kontext wurde das von Juristen untersagt?

„Ich durfte Texte nicht in Einfacher Sprache schreiben [...].“

Die für Inklusionsfragen zuständige Referentin im baden-württembergische Sozialministerium sagte mir, so lange es für die Einfache Sprache kein rechtssicheres Regelwerk gibt, kommen solche Texte nicht auf die Webseite des Ministeriums. Ich hatte vorgeschlagen, Inhalte, die die Zielgruppe betreffen, in Einfacher Sprache zu veröffentlichen. In ersten Gesprächen zu einem Inklusionsprojekt wurde mir oft genug erklärt, dass eine Publikation in Einfacher Sprache, in der auch Vorschriften erläutert werden, an den Hausjuristen scheitern wird.

Eine Sprache für möglichst alle

Einerseits, Sprachen repräsentieren Kulturen und Berufsgruppen. Andererseits soll eine Sprache dazu dienen, dass sie verstanden werden kann.
Man kann innerhalb einer bestimmten Kultur, einer bestimmten Berufsgruppe, eine bestimmte Sprache pflegen und sie weiterentwickeln. Jedoch, desto größer ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass sie nicht mehr verstanden werden kann.
Jeder muss es selbst wissen, wen man mit seiner Sprache erreichen möchte.
Gerade Politiker*innen aber sollten eine Sprache pflegen, dass sie von möglichst vielen Bürger*innen verstanden werden können und weniger zeigen, dass sie einem bestimmten "Kreis" angehören.