Neuordnung der Welt

Krieg in der Ukraine: Wie die SPD die „Zeitenwende“ gestalten muss

Michael Müller05. April 2022
Zerstörte Stadt Bucha in der Ukraine: Die Nachwendezeit ist nach mehr als dreißig Jahren beendet.
Zerstörte Stadt Bucha in der Ukraine: Die Nachwendezeit ist nach mehr als dreißig Jahren beendet.
Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine verändert die gesamte Weltordnung. Es ist auch Aufgabe der SPD, die Disruption dieser Zeitenwende sozial, ökologisch, demokratisch und vor allem friedlich zu gestalten.

Angesichts des furchtbaren, verbrecherischen Überfalls von Putin auf die Ukraine hat Bundeskanzler Olaf Scholz im Bundestag eine Zeitenwende festgestellt. Doch was bedeutet das eigentlich?

Jede*r versteht darunter etwas Anderes. Aber klar ist: Die Nachwendezeit ist nach mehr als dreißig Jahren beendet. Unklar bleibt, was stattdessen kommt. In dieser Zeit der Ungewissheit suchen viele Halt in den klar einzusortierenden politischen Zusammenhängen des Gegeneinanders zweier Blöcke. Die Erinnerung an den Kalten Krieg scheint dabei zu helfen. Die Doppelbeschluss-Logik von Abschreckung und Verhandlungen aus den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts erlebt bei vielen eine Renaissance. Sie dient als Leitplanke für eine Zeit, in der in Europa wieder Krieg herrscht.

Eine Vielzahl von Akteuren und Interessen

Wir alle ahnen, dass das nicht nur zu kurz gedacht ist, sondern auch über dreißig Jahre weltpolitische Entwicklung ignoriert. Denn ungeachtet des brutalen Angriffs Putins auf ein souveränes europäisches Land, hat die Zeitenwende nach der Friedlichen Revolution von 1989 unter anderem in der UN dazu geführt, dass ein großer Teil der Weltgemeinschaft die russische Aggression klar verurteilt hat. Selbst China vermochte es nicht, trotz aller demonstrierter Nähe zu Russland, sich an dessen Seite zu stellen und enthielt sich. Allerdings zeigt der Blick auf die 38 Länder, die sich ebenfalls entweder enthielten oder dagegen stimmten, darunter Indien und Südafrika, dass wir nach dem Ende der bipolaren Weltordnung und einer kurzen Zeit der US-amerikanischen Dominanz heute mit einer Vielzahl an relevanten Akteuren, mit eigenen, oft unterschiedlichen, Interessen konfrontiert sind.

In dieser multipolaren Weltordnung geht es, neben der möglichst schnellen Wiederherstellung des Friedens in Europa und der Bewahrung der Souveränität der Ukraine, um drei zentrale Herausforderungen.

  1. dürfen wir uns auf keinen Fall auf die Logik des Kalten Krieges zurückziehen. Es muss jetzt vielmehr darum gehen, die Zeitenwende als etwas Neues zu begreifen. Dafür muss es auch eine neue Strategie, jenseits eines 100 Milliarden-Paketes für die Bundeswehr, geben. In dieser Strategie stellt sich nicht die Frage Westen gegen Osten. Es kann und muss dabei um die Werte der Demokratie und der offenen Gesellschaften gehen.
  2. leben wir schon seit langem in einer weltweit beängstigenden Zeit der Disruption. Auch hier kann man wieder an einen Begriff der 80er Jahre erinnern: Waldsterben. Der Klimawandel mit seinen furchtbaren weltweiten Folgen ist keine Entwicklung der letzten Jahre. Seit Jahrzehnten wissen wir, dass wir umsteuern müssen. Aber erst jetzt ist dieses Wissen, auch dank der Fridays for Future Bewegung, dermaßen breit verankert, dass die Weltgemeinschaft endlich daraus Konsequenzen ziehen will. Damit das Umsteuern weg vom Zeitalter fossiler Energieträger gelingt, braucht es ein breites Bündnis. Dabei muss es auch um einen Kraftakt des globalen Nordens gehen, den globalen Süden in die Situation zu versetzen, einen menschenwürdigen Wohlstand zu erreichen und trotzdem aus fossilen Energieträgern auszusteigen. Wenn die zu befürchtende neue Eiszeit des waffenstarrenden Gegeneinanders die Anstrengungen zu einer weltweiten sozial-ökologischen Klimawende zurückdrängt, dann hat die Welt gleich doppelt verloren.
  3. können Frieden, Wohlstand, soziale Gerechtigkeit und die Klimawende nur gelingen, wenn sich Demokratie und damit Freiheit und Menschenrechte weltweit als das Modell durchsetzen, das zu einer gemeinsamen Veränderung hin zu einer Welt führt, die wir unseren Kindern und Enkeln überlassen wollen. Demokratie darf dabei aber kein „imperialistisches“ Instrument der Weltverbesserung sein. Demokratie muss seine Überlegenheit beweisen. Dazu gehört der jetzt durch den Ukrainekrieg erlebte Schulterschluss demokratischer Länder. Es braucht aber auch eine kluge Politik, die einerseits bei der Unterstützung von Demokratisierung die lokalen Gegebenheiten und Unterschiede berücksichtigt und andererseits an den Schwächen unseres eigenen Systems ansetzt, um die Demokratie als Modell resilient für die Zeitenwende zu machen.

Die derzeitige weltweite Krise hat die Grenzen des Wandels durch Handel ganz klar aufgezeigt und beweist, was schon die Corona-Krise gezeigt hat, auch das Prinzip der wirtschaftsliberalen Globalisierung hat Beschränkungen. Demokratien müssen zukünftig in der Lage sein, unabhängiger von Oligarchen, Diktaturen und Scheindemokratien zu wirtschaften und sich CO₂-neutral mit der nötigen Energie dafür zu versorgen. Das wird nicht ohne Folgen für jede*n Einzelne*n möglich sein.

Deutschland wird eine zentrale Rolle spielen müssen

Die große Aufgabe der Demokratien und damit auch der SPD ist es, die Disruption dieser Zeitenwende sozial, ökologisch, demokratisch und vor allem friedlich ohne Verteilungskämpfe zu gestalten.

Dafür stehen wir erst am Anfang. Wir müssen jetzt diesen weltweiten Diskurs aufnehmen und gerade in Europa wird Deutschland eine zentrale Rolle spielen müssen. Unsere Aufgabe ist es, eine Strategie zu entwerfen, die es uns ermöglicht, auf die Machtverschiebungen im internationalen System zu reagieren und für unsere Interessen selbstbewusst einzustehen. Sich für Frieden, Demokratie, Menschenrechte und die Sicherung unser aller Umwelt einzusetzen, ist dabei kein Selbstzweck, sondern der Wertekompass, der unserer Politik die Richtung vorgeben muss.

Diese Strategie kann nur und muss von einer weltweiten Allianz der Demokratien ausgehen, die sich für multilaterale Lösungen einsetzen und wo immer möglich auf Dialog setzen.

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Kommentare

Zeitenwende

Jetzt haben wir es im Salat. Hätten Politiker und innen, wie sie sich jetzt für den Krieg und Aufrüstung engagieren, sich vor 30 Jahren genauso intensiv für eine EUROPÄISCHE Sicherheitsarchitektur inclusive Russland eingesetzt, dann hätten wir wahrscheinlich diesen Schlamassel jetzt nicht.

„Zeitenwende

sozial, ökologisch, demokratisch und vor allem friedlich gestalten“.
Das ist es! So machen wir`s!!

„Die Doppelbeschluss-Logik von Abschreckung und Verhandlungen aus den 80er Jahren ... (ist) nicht nur zu kurz gedacht, sondern ignoriert auch über dreißig Jahre weltpolitische Entwicklung“. Die „bipolare Weltordnung (mit) ... US-amerikanischer Dominanz“, die aus USA-Bidens „großer Schlacht zwischen Demokratie und Autokratie“ durchscheint, kann die neue Weltordnung mit einer „Vielzahl an relevanten Akteuren“ nicht schaffen. „Demokratie darf ... kein „imperialistisches“ Instrument der Weltverbesserung sein, ... muss ihre Überlegenheit beweisen“, ohne „kohärente europäische Rüstungsexportpraxis (als) ... politischem Hebel gemeinsamer europäischer Außenpolitik“ (Vorwärts).
Das ist Klasse! So machen wir`s!!

„Diese Strategie kann nur und muss von einer weltweiten Allianz der Demokratien ausgehen, die sich für multilaterale Lösungen einsetzen und wo immer möglich auf Dialog setzen“.
Wo immer möglich? Das könnte auf mögliche militärische Lösungen verweisen – ist, da bin ich sicher, aber nicht gemeint.

Eine Stimme gegen die grassierende Irrationalität – auch in der SPD.

Frieden ist Gleichheit. Ohne Frieden ist ALLES nichts!

Ich stimme Michael Müller in allen Punkten zu! Sein Beitrag ist eine der wenigen vernünftigen Wortmeldungen aus unserer Partei zu diesem Thema. Wohltuend nach der Mail unserer Parteivorsitzenden von gestern , die ich als aggressiv empfinde.
Ein Blick auf die 35 Länder, die sich der UNO-Resolution enthalten haben, zeigt erstens, dass sie die Mehrheit der Weltbevölkerung repräsentieren und zweitens, dass sie überwiegend ihre Erfahrungen mit Angriffskriegen des Westens haben. Die sich abzeichnende Blockbildung richtet sich gegen die westliche ökonomische und militärische Vorherrschaft, aber nicht gegen die Demokratie. Wollten wir diese aufrechterhalten, wäre der 3. Weltkrieg unvermeidlich. Es gibt keine friedliche Alternative zur einer kooperativen Weltordnung, die aus demokratischer Sicht unvermeidlich mit der Aufgabe westlicher Vormacht einhergehen muss. Wir müssen die Ressourcen unserer Erde gerecht teilen. Ob nun unsere Form der Demokratie dazu in der Lage ist oder nicht, entscheidet darüber, ob sie überleben darf. Oder nicht, damit die gesamte Menschheit eine Überlebenschance erhält.
Als SPD sollten wir die Neutralität der Ukraine und das Kriegsende unterstützen.

Zeitenwende

Michael Müller hat sich aufrecht bemüht einen differenzierenden Beitrag zu schreiben. Vorsichtig formuliert Müller: "Die derzeitige weltweite Krise hat die Grenzen des Wandels durch Handel ganz klar aufgezeigt und beweist (...), auch das Prinzip der wirtschaftsliberalen Globalisierung hat Beschränkungen." Müller hätte auch Klartext sprechen können: Weltweit herrscht sowohl in den "westlichen Demokratien" als auch in sozialistisch/kommunistisch sich bezeichnenden Systemen purer Neoliberalismus (marktextremistischer Kapitalismus) und /oder Staatskapitalismus, deren innewohnendes Wesen zwingend Konkurrenz/Profitmaximierung/Kapitalakkumulation/Unterdrückung/Ausbeutung von Mensch und Natur/extreme Umweltschäden sind. Müller schreibt weiter: "Die große Aufgabe der Demokratien und damit auch der SPD ist es, die Disruption dieser Zeitenwende sozial, ökologisch, demokratisch und vor allem friedlich ohne Verteilungskämpfe zu gestalten." Diese Absicht/Forderung von Müller ist absolut richtig und voll zu unterstützen! Allein die gegenwärtigen globalen politischen, gesellschaftspolitischen und wirtschaftspolitischen Voraussetzungen liegen nicht vor. Dazu müsste es mindestens eine globale

Zeitenwende II (Helmut Gelhardt)

sozialdemokratische Wirtschaftsdemokratie noch innerhalb der kapitalistischen Ordnung geben. Selbst davon - von diesem Mindestanspruch, der ein guter Anfang wäre, ist gegenwärtig weltweit nichts zu sehen. Für ein friedliches, gerechtes Weiterleben auf diesem Planeten, dessen Ressourcen endlich sind! - das dürfte jetzt jeder und dem absolut klar sein - muss es zu einem klugen Suffizienz-Denken und einem Demokratischen, humanen, ö k o l o g i s c h e n Sozialismus kommen. Nicht in weiter Ferne, sondern unverzüglich. Unterhalb dieser Anforderung wird es nicht gehen.
Auf die erhellenden Ausführungen in

https://www.ossietzky.net/sanktionsirrtuemer/

darf hingewiesen werden.