Kopftuch und politischer Diskurs

Kopftuchdebatte: Den Blick freimachen für das Wesentliche

Daniela Kaya31. August 2015
Gegenstand hitziger Diskussionen: das Kopftuch
In der Kopftuchdebatte gilt Wegducken nicht. Die Politik muss Grundrechte abwägen und miteinander in Einklang bringen. Denn letztlich geht es um nichts Geringeres als die soziale Frage.

Das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat das politische Berlin in Aufruhr versetzt. Ein generelles Kopftuchverbot, so die obersten Richter, ist verfassungswidrig. Nordrhein-Westfalen hat seine Hausaufgaben inzwischen gemacht: Mit den Stimmen von SPD, Grünen, CDU und Piratenpartei wurde die Privilegierung der christlich-abendländischen Tradition aus dem Landesgesetz gestrichen, das generelle Kopftuchverbot aufgehoben. Warum? Nun, das Verfassungsgericht urteilte: Allein vom Tragen eines Kopftuches gehe keine abstrakte Gefahr aus. 

In Berlin hingegen gibt es keine Privilegierung einer „christlich-abendländischen Tradition“. Das Neutralitätsgesetz regelt, dass keinerlei religiöse Symbole zulässig sind. Doch auch dieses generelle Verbot, welches eine Gleichbehandlung aller religiösen Symbole praktiziert, gibt der Berliner Rot-Schwarzen Koalition Hausaufgaben auf. Nämlich zu prüfen, ob dieses generelle Verbot dem Urteil des höchsten Gerichts standhält. Der aktuelle Innensenator Frank Henkel (CDU) lässt bis heute auf eine Stellungnahme warten.

Vielschichtiger politischer Diskurs

Derweil kocht die Diskussion. Die Fronten scheinen klar: Auf der einen Seite finden sich die Verfechter der absoluten staatlichen Neutralität. Auf der anderen Seite finden sich konfessionell Gebundene, die nun den Weg für deutsche Muslimas im Schuldienst öffnen wollen.

Dabei ist der politische Diskurs vielschichtig. Er wird hart geführt, schließlich geht es um nicht weniger als das Verhältnis von Staat und Religion im öffentlichen Raum. Es werden Fragen über das Verhältnis von Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft verhandelt. Und nicht zuletzt geht es um das Emanzipations- und Geschlechterverhältnis hierzulande. Nun könnte man sich zurücklehnen und so lange abwarten, bis auch ein Berliner Fall vor das höchste Gericht zieht. Das wäre aber ein politisches Wegducken – schließlich ist diese Frage das Primat der Politik.

Raum für Zwischentöne

Obwohl sich das jüngste Urteil nicht nur auf das Kopftuch im Schuldienst bezieht, konzentriert sich die Debatte insbesondere darauf. Das Kopftuch polarisiert. Die Debattenbeiträge sind meist hitzig, selten sachlich-differenziert. Wegducken aber gilt nicht. Die Landespolitik darf nicht auf das Eingreifen der Gerichte warten. Es muss darum gehen, alle Positionen abzuwägen und die berührten Grundrechte miteinander in Einklang zu bringen. Dabei braucht es Raum für die Zwischentöne und die bislang unterbeleuchteten Aspekte der Diskussion. Dabei sehe ich vor allem das Emanzipationsverständnis und das Minderheit-Mehrheit-Verhältnis im Fokus. Als Sozialdemokratin steht für mich das Aufstiegsversprechen für alle unabhängig von Herkunft im Zentrum aller politischen Bemühungen. Denn das Aufstiegsversprechen macht den Blick frei für das Wesentliche: die soziale Frage.

Lassen sich hieraus Rückschlüsse für die Frage nach dem Kopftuch im Lehrerzimmer schließen? Klar ist: Das Äußere der Frau war und ist auch in dieser Diskussion Dreh- und Angelpunkt. Welches Emanzipationsverständnis wird mit einer kopftuchtragenden Lehrerin verbunden? Wie steht es um die ökonomische Unabhängigkeit und die Selbstbestimmtheit der Frau? Wie gestaltet sich die Wahlfreiheit für die kopftuchtragende Frau?

Wenn aus Ungleichheiten Benachteiligungen werden

Die Betrachtung des Mehrheit-Minderheit Verhältnis legt oftmals den Finger in die Wunde: genau dorthin, wo aus Ungleichheiten Benachteiligungen werden. Direkte oder mittelbare Benachteiligung wird sichtbar.  Aus dieser Perspektive heraus werden wir mit der Arbeitsgruppe Migration und Vielfalt in der Berliner SPD auch der Frage nachgehen, ob sich beim Berliner Neutralitätsgesetz, welches ja alle religiösen Symbole gleichermaßen verbietet, eine Ungleichheit stiftende Wirkung bemerkbar macht.

Übrigens: Die Berlinerinnen und Berliner selbst sehen das ähnlich wie das Verfassungsgericht. Je jünger sie sind, desto entspannter ist ihr Verhältnis zu religiösen Symbolen bei Lehrerinnen und Lehrern. Für mich als Religions-distanzierten Menschen ist übrigens klar, dass ich das Kopftuch nicht mögen muss. Mein persönlicher Lebensstil aber – und das muss doch politische Richtschnur sein – darf nicht Maßstab werden auf der Suche nach einer politischen Antwort für die staatliche Neutralität.

Ein Stück Stoff

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Kommentare

Teil 1 der Blick auf das wesentliche

Liebe Daniela,
da ich selbst Parteimitglied in der SPD bin rede ich Dich nachfolgen traditionsgemäß mit Du an.

Als religions- distanzierter Mensch trägst Du Dein Kopftuch nur aus Modegründen und weil es Deinem Lebensstil entspricht. So habe ich es Deinen Bericht entnommen.

Menschen, die Dich nicht kennen, werden das Kopftuch aber als religiöses Zeichen deuten.
Aktuell erscheint es mir „Mode“ zu sein, das alle Minderheiten auf Gleichberechtigung und Anerkennung plädieren. Die eigene Person steht im Mittelpunk, der Großteil der Gesellschaft soll sich anpassen.

Hast Du Dich mal selbst gefragt, warum Dir das Kopftuch so wichtig ist? Ist Dir die freiheitlich demokratische Grundordnung des Landes in dem Du lebst und in dem Du sogar eine politische Funktion übernommen hast weniger wert, als Dein eigenes Belangen?

Während meiner Zeit im Bergbau habe ich viele türkische Kollegen gehabt, welche schon damals das Thema Kopftuch kontrovers debattiert haben.

Offensichtlich ist das Tragen eines Kopftuches nicht religiös fundiert. Ich selbst habe den Koran nicht gelesen, verlasse mich aber mal auf die Aussagen meiner alten Kumpel.

Teil 2 der Blick auf das Wesentliche

Wo bleibt dann der Integrationswille muslimischer Migranten? Wie sieht es mit der eigenen Toleranz und dem Respekt gegenüber der Wahlheimat aus?

In den 1920 Jahren hat sich in Deutschland eine Gruppe von Menschen zusammengefunden, welche sich für ein Leben mit gesunder Ernährung, Alkoholverzicht und Sport im unbekleideten Zustand entschieden hat. So wollte man den Zwängen der damaligen Zeit entkommen. Man nannte und nennt es FKK, Frei Körper Kultur.
Heute sind diese Menschen unter dem Dachverband des DFK immer noch aktiv, auf abgeschiedenen Geländen in der Natur.
Sicherlich hast Du schon mal davon gehört, dass es eine Minderheit gibt, die sich zu jeder Zeit und an jedem Platz nackt bewegen möchte. Das ist deren Lebensstiel und Verständnis von Anerkennung und persönlicher Freiheit.
Jetzt stelle Dir mal für einen Moment vor, das Bundesverfassungsgericht gäbe diesen Menschen recht, weil Gott uns schließlich so geschaffen hat. Dann stelle Dir mal weiter vor, diese Menschen würde in eine türkische Teestube in Berlin Kreuzberg gehen.........

Wie weit darf man Toleranz einfordern und wo hört der Respekt gegenüber anderen auf?

Glück Auf
Frank

Was wiegt schwerer – Religionsfreiheit oder Neutralität

Was wiegt schwerer – die Religionsfreiheit oder das Neutralitätsgebot für Staatsbedienstete? Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg hat entschieden: Die Interessen des Staates sind wichtiger.

Allerdings bezieht sich der Richterspruch auf den Fall einer Krankenhausangestellten in Frankreich. Und dort ist anders als in Deutschland im ersten Artikel der Verfassung klar festgehalten: Der Glaube ist ausschließlich Privatsache – und deshalb auch im Privaten zu halten. Diese strikte Trennung von Kirche und Staat, der sogenannte Laizismus, gehört regelrecht zu den Grundpfeilern der französischen Nation.

Religion hat nicht nur keine staatliche, sondern auch keine öffentliche Funktion. Religiöse Symbole oder Bekenntnisse sind für Staatsdiener, wie es die in einem Krankenhaus angestellte Sozialarbeiterin war, tabu. Sogar Schüler dürfen im Klassenzimmer weder Kreuz noch Kopftuch oder Kippa tragen; ja, sie dürfen nicht einmal nach ihrer Konfession befragt werden.

http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-158878