
Die Religion oder wahrscheinlich besser die Wiederbesinnung auf die Religion, insbesondere als identitätsstiftendes Persönlichkeitsmerkmal von Teilen der Einwanderergesellschaft und ihrer in unserem Land geborenen Nachfahren, erregt das Interesse der Öffentlichkeit und löst kontroverse gesamtgesellschaftliche Diskussionen, ja sogar höchstrichterliche Urteile aus. Erst vor einigen Wochen habe ich zu einer öffentlichen Veranstaltung zu diesem facettenreichen Thema eingeladen und festgestellt, dass diese Thematik reges Interesse hervorruft, denn mit über 200 Besuchern, die kein Parteibuch hatten, war nicht unbedingt zu rechnen.
Die Veranstaltung zeigte aber auch, dass die Diskussion bei bestimmten Teilen der Gesellschaft nicht oder nicht richtig ankommt. Viele Teilnehmer glaubten, es ginge um ein pauschales „Kopftuchverbot“ und die Inkaufnahme von Diskriminierung. Vertreter der Neuköllner „Sehitlik“ Moschee warfen mir Wahlbetrug vor, weil ich im Wahlkampf 2011 auf einem Plakat mit einer Kopftuch tragenden Muslima abgebildet war und nun „gegen“ das Kopftuch kämpfen würde.
Es geht um die gesamte religiöse Symbolik
Nein, es geht nicht um das Kopftuch. Es geht um die gesamte religiöse Symbolik. Es geht auch nicht um den öffentlichen Raum oder den Arbeitsplatz als solchen, sondern es geht um die nach außen visuell wahrnehmbare Neutralität des Staates. Die Debatte darüber ist durch die letzte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 13. März dieses Jahres erneut befeuert worden, weil sie im Gegensatz zur bisherigen Rechtsprechung steht. Noch im Jahr 2003 stellte das BVerfG mit Entscheidung vom 24. September fest, dass
1. ein Verbot für Lehrkräfte in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen, im geltenden Recht Baden-Württembergs keine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage finde und
2. der mit der zunehmenden religiöse Pluralität verbundene gesellschaftliche Wandel für den Gesetzgeber Anlass zu einer Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes religiöser Bezüge in der Schule sein kann.
Das Neutralitätsgesetz wird in Frage gestellt
Diese Entscheidung nahm das Land Berlin zum Anlass und erließ unter der Federführung von Innensenator Ehrhart Körting am 27. Januar 2005 das Berliner Neutralitätsgesetz, das Bediensteten des Landes das Tragen „sichtbarer religiöser und weltanschaulicher Symbole“ mit einigen Einschränkungen und Ausnahmen untersagt. Infolge des Verfassungsgerichtsurteils von 2015 wurden Gutachten in Auftrag gegeben und von politischer Seite dieses Berliner Neutralitätsgesetz ganz oder teilweise zur Disposition gestellt.
In Zeiten allgemeiner parteipolitischer Nivellierung und damit verbundener niedriger Wahlbeteiligungen, sowie einem Grundmisstrauen in die politischen Akteure, ist ein Verstecken hinter einem Urteil oder schlimmer noch, ein Wechsel der politischen Agenda, den man sich so aber nicht konkret zu benennen traut, eine politische Bankrotterklärung. Dennoch will ich zunächst auf dieses vielzitierte Urteil eingehen, bevor ich zu einer politischen Bewertung komme.
Das Verfassungsgericht kommt zu dem Schluss, dass ein „gesetzliches Verbot religiöser Bekundungen durch das äußere Erscheinungsbild schon wegen der bloß abstrakten Eignung zur Begründung einer Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität in einer öffentlichen bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule unverhältnismäßig ist, wenn dieses Verhalten nachvollziehbar auf ein als verpflichtend verstandenes religiöses Gebot zurückzuführen ist“.
Das BVerfG lässt damit die bloße Behauptung des Grundrechtsträgers zu, das Tragen des Kopftuchs sei für ihn ein religiöses Gebot und damit verpflichtend, wobei es kritiklos alle vermeintlichen religiösen Gebote unabhängig vom Wertekatalog des Grundgesetzes zuzulassen scheint, bzw. eine Abgrenzung vermeidet, wann eine Berufung auf religiöse Gebote mit anderen Rechtsgütern des Grundgesetzes im Wege der praktischen Konkordanz grundsätzlich ausscheidet. Die Entscheidung der Verfassungsrichter nimmt keinen Bezug darauf, wann die Motivation des Grundrechtsträgers im Gegensatz zur Wahrnehmung Dritter steht, die in dem Symbol kein ausschließlich verpflichtendes Gebot mehr sehen.
Das Religiöse ist auch politisch
Um beim Kopftuch zu bleiben. Das „vermeintlich“ religiöse Gebot kann z.B. gegen die Gleichwertigkeit der Geschlechter verstoßen, weil es objektiv eine Benachteiligung von Frauen und eine Diskriminierung von Männern bedeutet, selbst wenn man auf die subjektive Wahrnehmung Dritter nicht abstellen will.
Auch das ausschließliche Abstellen auf das vermeintliche, alleinige Verständnis bzw. Empfinden des Grundrechtsträgers hätte auch unter dem Aspekt der Weltanschauung einer Begründung bedurft. In Zeiten in denen es bei religiöser Symbolik den Verwendern nicht oder nicht ausschließlich um religiös motivierte Handlungen geht, sondern auch um eine politische Symbolik, wie sie im Fall von Betül Ulusoy deutlich wurde, oder eine solche vom Träger zumindest billigend in Kauf genommen wird, hätte es Erläuterungen bedurft.
Dazu formulieren die Richter aber kein einziges Wort. Gerade im Hinblick auf die jeweilige Eignung bezüglich der zu leistenden Aufgaben: Den grundgesetzlichen Verpflichtungen des Staates und seiner Bediensteten wären sicher ein paar Erklärungen zur Lösung dieser Gemengelagen hilfreich gewesen.
Keine klare Linie der Richter beim „Schulfrieden“
Mit der Unterscheidung von abstrakter und konkreter Gefahr, die alleinig ein Verbot des Kopftuchs rechtfertigen könne, zeigt das Bundesverfassungsgericht keine generelle, klare Linie auf, wann der Schulfrieden bedroht ist und trägt diesen Konflikt dorthin, wo wir ihn in Berlin überhaupt nicht gebrauchen können, nämlich in die Schulen.
Die Schulen sollen nun entscheiden, wann der Schulfrieden bedroht ist und wann der Staat seiner Pflicht zur Wahrung der Neutralität nicht mehr ausreichend nachkommt. Sie sollen nun alleine darüber befinden, wann eine abstrakte Gefahr in eine konkrete Gefahr umschlägt. Sie müssen jetzt selbständig die Fragen beantworten, die sich im Schulalltag ergeben wie z.B. diese:
Fängt die Störung des Schulfriedens an, wenn eine Kopftuch tragende Lehrerin den Schülern ihre Motivation erklärt? Oder erst, wenn sie dafür wirbt, dass auch andere Schülerinnen es ihr gleich tun sollen? Müssen Schüler oder Eltern erst rebellieren? Reicht die Behauptung eines atheistischen Schülers oder seiner Eltern bereits aus, damit sie in ihrem Grundrecht auf negative Religionsausübung beeinträchtigt sind?
Der Gesetzgeber darf die Schulen nicht alleine lassen
Nein, dieses Urteil taugt nicht dazu das Berliner Neutralitätsgesetz ganz oder auch nur teilweise zu ändern. Der Berliner Gesetzgeber kann seine Schulen mit diesen Fragen nicht alleine lassen. Gerade die Schulen in den Problemkiezen haben sich genügend anderen Anforderungen des Schulalltags zu stellen, um den sozialen Aufstieg durch Bildung zu organisieren. Gerade diese Schulen mit ihren besonderen Problemkreisen insbesondere auch im Hinblick auf religiöse Symbolik hatten die Richter in der kleinstädtischen Gemütlichkeitsatmosphäre Karlsruhes nicht im Blick.
Als Einwanderer und deren Nachkommen haben wir stets die faktische Anerkennung Deutschlands als Einwanderungsland gefordert. Nun müssen wir auch anerkennen, dass ein solches Land besonders auf seine nach außen sichtbare Neutralität seiner Institutionen besteht und seine Überparteilichkeit manifestiert. Das Berliner Neutralitätsgesetz muss deshalb bestehen bleiben!