Debatte

Wie das Kopftuch die Neutralität des Staates bedroht

Erol Özkaraca11. August 2015
Lehrerin mit Kopftuch
Mit Kopftuch in der Schule: in Jordanien der Normalfall, in Berlin undenkbar
Eine junge Frau aus Neukölln hat Deutschland eine neue Kopftuchdebatte beschert. Betül Ulusoy will auch im Referendariat ihr Kopftuch nicht ablegen. Warum das Neutralitätsgebot des Staates im Zweifel wichtiger ist als die persönliche Glaubensfreiheit einzelner, erklärt der Berliner Abgeordnete und Jurist Erol Özkaraca.

Die Religion oder wahrscheinlich besser die Wiederbesinnung auf die Religion, insbesondere als identitätsstiftendes Persönlichkeitsmerkmal von Teilen der Einwanderergesellschaft und ihrer in unserem Land geborenen Nachfahren, erregt das Interesse der Öffentlichkeit und löst kontroverse gesamtgesellschaftliche Diskussionen, ja sogar höchstrichterliche Urteile aus. Erst vor einigen Wochen habe ich zu einer öffentlichen Veranstaltung zu diesem facettenreichen Thema eingeladen und festgestellt, dass diese Thematik reges Interesse hervorruft, denn mit über 200 Besuchern, die kein Parteibuch hatten, war nicht unbedingt zu rechnen.

Die Veranstaltung zeigte aber auch, dass die Diskussion bei bestimmten Teilen der Gesellschaft nicht oder nicht richtig ankommt. Viele Teilnehmer glaubten, es ginge um ein pauschales „Kopftuchverbot“ und die Inkaufnahme von Diskriminierung. Vertreter der Neuköllner „Sehitlik“ Moschee warfen mir Wahlbetrug vor, weil ich im Wahlkampf 2011 auf einem Plakat mit einer Kopftuch tragenden Muslima abgebildet war und nun „gegen“ das Kopftuch kämpfen würde.

Es geht um die gesamte religiöse Symbolik

Nein, es geht nicht um das Kopftuch. Es geht um die gesamte religiöse Symbolik. Es geht auch nicht um den öffentlichen Raum oder den Arbeitsplatz als solchen, sondern es geht um die nach außen visuell wahrnehmbare Neutralität des Staates. Die Debatte darüber ist durch die letzte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 13. März dieses Jahres erneut befeuert worden, weil sie im Gegensatz zur bisherigen Rechtsprechung steht. Noch im Jahr 2003 stellte das BVerfG mit Entscheidung vom 24. September fest, dass

1. ein Verbot für Lehrkräfte in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen, im geltenden Recht Baden-Württembergs keine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage finde und

2. der mit der zunehmenden religiöse Pluralität verbundene gesellschaftliche Wandel für den Gesetzgeber Anlass zu einer Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes religiöser Bezüge in der Schule sein kann.

Das Neutralitätsgesetz wird in Frage gestellt

Diese Entscheidung nahm das Land Berlin zum Anlass und erließ unter der Federführung von Innensenator Ehrhart Körting am 27. Januar 2005 das Berliner Neutralitätsgesetz, das Bediensteten des Landes das Tragen „sichtbarer religiöser und weltanschaulicher Symbole“ mit einigen Einschränkungen und Ausnahmen untersagt. Infolge des Verfassungsgerichtsurteils von 2015 wurden Gutachten in Auftrag gegeben und von politischer Seite dieses Berliner Neutralitätsgesetz ganz oder teilweise zur Disposition gestellt.

In Zeiten allgemeiner parteipolitischer Nivellierung und damit verbundener niedriger Wahlbeteiligungen, sowie einem Grundmisstrauen in die politischen Akteure, ist ein Verstecken hinter einem Urteil oder schlimmer noch, ein Wechsel der politischen Agenda, den man sich so aber nicht konkret zu benennen traut, eine politische Bankrotterklärung. Dennoch will ich zunächst auf dieses vielzitierte Urteil eingehen, bevor ich zu einer politischen Bewertung komme.

Das Verfassungsgericht kommt zu dem Schluss, dass ein „gesetzliches Verbot religiöser Bekundungen durch das äußere Erscheinungsbild schon wegen der bloß abstrakten Eignung zur Begründung einer Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität in einer öffentlichen bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule unverhältnismäßig ist, wenn dieses Verhalten nachvollziehbar auf ein als verpflichtend verstandenes religiöses Gebot zurückzuführen ist“.

Das BVerfG lässt damit die bloße Behauptung des Grundrechtsträgers zu, das Tragen des Kopftuchs sei für ihn ein religiöses Gebot und damit verpflichtend, wobei es kritiklos alle vermeintlichen religiösen Gebote unabhängig vom Wertekatalog des Grundgesetzes zuzulassen scheint, bzw. eine Abgrenzung vermeidet, wann eine Berufung auf religiöse Gebote mit anderen Rechtsgütern des Grundgesetzes im Wege der praktischen Konkordanz grundsätzlich ausscheidet. Die Entscheidung der Verfassungsrichter nimmt keinen Bezug darauf, wann die Motivation des Grundrechtsträgers im Gegensatz zur Wahrnehmung Dritter steht, die in dem Symbol kein ausschließlich verpflichtendes Gebot mehr sehen.

Das Religiöse ist auch politisch

Um beim Kopftuch zu bleiben. Das „vermeintlich“ religiöse Gebot kann z.B. gegen die Gleichwertigkeit der Geschlechter verstoßen, weil es objektiv eine Benachteiligung von Frauen und eine Diskriminierung von Männern bedeutet, selbst wenn man auf die subjektive Wahrnehmung Dritter nicht abstellen will.

Auch das ausschließliche Abstellen auf das vermeintliche, alleinige Verständnis bzw. Empfinden des Grundrechtsträgers hätte auch unter dem Aspekt der Weltanschauung einer Begründung bedurft. In Zeiten in denen es bei religiöser Symbolik den Verwendern nicht oder nicht ausschließlich um religiös motivierte Handlungen geht, sondern auch um eine politische Symbolik, wie sie im Fall von Betül Ulusoy deutlich wurde, oder eine solche vom Träger zumindest billigend in Kauf genommen wird, hätte es Erläuterungen bedurft.

Dazu formulieren die Richter aber kein einziges Wort. Gerade im Hinblick auf die jeweilige Eignung bezüglich der zu leistenden Aufgaben: Den grundgesetzlichen Verpflichtungen des Staates und seiner Bediensteten wären sicher ein paar Erklärungen zur Lösung dieser Gemengelagen hilfreich gewesen.

Keine klare Linie der Richter beim „Schulfrieden“

Mit der Unterscheidung von abstrakter und konkreter Gefahr, die alleinig ein Verbot des Kopftuchs rechtfertigen könne, zeigt das Bundesverfassungsgericht keine generelle, klare Linie auf, wann der Schulfrieden bedroht ist und trägt diesen Konflikt dorthin, wo wir ihn in Berlin überhaupt nicht gebrauchen können, nämlich in die Schulen.

Die Schulen sollen nun entscheiden, wann der Schulfrieden bedroht ist und wann der Staat seiner Pflicht zur Wahrung der Neutralität nicht mehr ausreichend nachkommt. Sie sollen nun alleine darüber befinden, wann eine abstrakte Gefahr in eine konkrete Gefahr umschlägt. Sie müssen jetzt selbständig die Fragen beantworten, die sich im Schulalltag ergeben wie z.B. diese:

Fängt die Störung des Schulfriedens an, wenn eine Kopftuch tragende Lehrerin den Schülern ihre Motivation erklärt? Oder erst, wenn sie dafür wirbt, dass auch andere Schülerinnen es ihr gleich tun sollen? Müssen Schüler oder Eltern erst rebellieren? Reicht die Behauptung eines atheistischen Schülers oder seiner Eltern bereits aus, damit sie in ihrem Grundrecht auf negative Religionsausübung beeinträchtigt sind?

Der Gesetzgeber darf die Schulen nicht alleine lassen

Nein, dieses Urteil taugt nicht dazu das Berliner Neutralitätsgesetz ganz oder auch nur teilweise zu ändern. Der Berliner Gesetzgeber kann seine Schulen mit diesen Fragen nicht alleine lassen. Gerade die Schulen in den Problemkiezen haben sich genügend anderen Anforderungen  des Schulalltags zu stellen, um den sozialen Aufstieg durch Bildung zu organisieren. Gerade diese Schulen mit ihren besonderen Problemkreisen insbesondere auch im Hinblick auf religiöse Symbolik hatten die Richter in der kleinstädtischen Gemütlichkeitsatmosphäre Karlsruhes nicht im Blick.

Als Einwanderer und deren Nachkommen haben wir stets die faktische Anerkennung Deutschlands als Einwanderungsland gefordert. Nun müssen wir auch anerkennen, dass ein solches Land besonders auf seine nach außen sichtbare Neutralität seiner Institutionen besteht und seine Überparteilichkeit manifestiert. Das Berliner Neutralitätsgesetz muss deshalb bestehen bleiben!

Ein Stück Stoff

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Kommentare

Ein Stück ...

Lieber Erol, liebe Leser/innen irgendwie sind es immer die "kleinen Dinge" die den Stein des Anstoß ins Rollen bringen: mal ganz banal verglichen mit der 68er Revolution bei der alle lange Haare als "politsch sichtbares Zeichen" trugen. Oder auch mal ganz grundlegent aus der christlichen Traditon gegriffen "Jesus predigt öffentlich im Tempel" ...
Alle haben es gesehen. Alle habe es erlebt. Es war/ist offener Protest wie das Kopttuch auch. Ich zeige euch, was ich denke! Und dann wird es politisch.

Es hat sich seit Jesus vor über 2000 Jahren vieles verändert. Bei Jesus hieß es "kreuzigt ihn" um ihn Mundtod zu machen. Wir sind heute nun im Laufe der Jahrhunderte immer toleranter und offener geworden. Doch das heißt nicht wie ja Erol schreibt, dass wir ALLES tolerieren müssen. Denn dann würde das ja - um es mal mit dem deutschen Mundtod-Argument zu sagen - auch für Naziparolen gegen Ausländer und Flüchlinge gelten. Und DIE wollen wir nun wirklich nicht, oder? Warum gilt das nicht auch für das Kopftuch als "Mundtod-Argument"?

Jesus??

Was hat der gute Mann (wenn er denn überhaupt gelebt hat...) denn mit dem Kopftuch zu tun?? außer, daß auch "seine" Religion fordert, daß sich Frauen verhüllen sollen, wg der ständigen sexuellen Signale, die diese Wesen (minderwertige, wie es hieß) aussenden. Orthodoxe Jüdinnen tragen deswegen Perücken.
Die Frage ist doch eher, wollen wir dieses Frauenbild immer noch unterstützen? (abgesehen von dem politischem Hintergrund)
Und wir sind im Laufe der Jahrhunderte immer toleranter und offener geworden und zwar gegen den Willen der Religionen!

Kopftuch

Erol Özkaraca hat recht. Im wohligen Karlsruhe kann man solche Urteile fällen. In Berlin gibt es eine andere Realität. Wie reagiert eine Schulleitung, wenn 100% der Schüler einer Klasse Muslime sind, in der Nachbarklasse aber nur 20%? Genügt die Reklamation einer Pegida-Mutter, um den Schulfrieden als gestört anzusehen? Usw., usw.!

Kirchenstaat oder Freiheit

Das BVerfG versucht offenkundig - vermutlich auch auf politischen und klerikalen Druck - das Verfassungsrecht zunehmend religiöser im Sinne einer fast schon schrankenlosen Religionsfreiheit umzuinterpretieren. Ob nun der Kopftuch-Beschluss vom 13.03.2015 oder insbesondere der Chefarzt-Beschluss vom 22.10.2014 -die Kommentare und Begründungen des BVerfG sind an religiöser Einseitigkeit und klerikaler Unterwürfigkeit unmissverständlich. Dies ist der Weg zurück in den Kirchenstaat.

Und was bedeutet dies für die Politik der SPD? Während die Bevölkerung immer säkularer, selbstbestimmter und weltanschaulich immer pluraler wird, wird der Staat und seine Verfassungsorgane nach meiner Beobachtung immer klerikaler - eine sehr gefährliche Melange und zudem eine grundsätzlich undemokratische Entwicklung.
Der Anteil der konfessionsfreien Bevölkerung liegt zurzeit bei ca. 40 %, Tendenz stark steigend. Die gegenwärtige Parteiführung allerdings tut so, als müsste sie dieser demokratischen Entwicklung mit noch mehr Privilegien und Sonderrechte für Religionen beantworten, unglaublich!
Gleiche Rechte für alle ist das Gebot der Stunde, sonst wird demnächst die 20 von unten zu besichtigen sein.

Danke für diesen Beitrag

Danke für diesen Beitrag Herr Özcaraka,

"Ursprungdeutsche" konnen sich solche Äußerungen oft gar nicht erlauben ohne in die Rassistenecke gedrängt zu werden.
Deshalb ist es gut, dass auch Mitbürger mit "Migrationshintergrund" sich dazu
kritisch äußern.
Hier in Deutschland haben die progressiven Parteien jahrzehntelang dafür gekämpft die Religionen aus der Politik herauszuhalten. Nun wo wir damit schon sehr weit vorangeschritten sind, soll alles wieder rückwärts laufen.
Das können Viele nicht nachvollziehen.
Vor allem Frauen nicht, die ebenfalls jahrzehntelang dafür gekämpft haben, sich dem Klima entsprechend und praktisch anziehen zu dürfen (und ja, manche auch freizügig und sexy), ohne vom männlichen Geschlecht als "Freiwild" angesehen zu werden.

Orthodoxe jüdische Frauen

"Orthodoxe Jüdinnen tragen deswegen Perücken."

Viele orthodoxe Jüdinnen tragen auch Kopftücher.

https://en.wikipedia.org/wiki/Tichel

Kopftuch - nein danke !

Das BVerfG macht sich eine sehr konservative Interpretation des Islam zu eigen,wenn man das Kopftuchtragen "ein als verpflichtend verstandenes religiöses Gebot" ansieht. Die Kopftuchträgerin ist im Schuldienst immerhin Repräsentantin des Staates, der zur religiösen und weltanschaulichen
Neutralität verpflichtet ist. Mit welchem Recht will man zukünftig Burkaträgerinnen und Bagwan-Jüngern im orangen Outfit verweigern, ihre
Religionsfreiheit in der Schule auszuleben ? Wer will sich vorstellen, dass eine Gerichtsverhandlung nur deshalb mehrfach unterbrochen wird, weil die muslimische Richterin ihre Gebete verrichten will ? Dürfen dann auch AfD-und NPD-Anhänger offen ihr Bekenntnis zur Partei durch Tragen eines Buttons im Schulunterricht kundtun ?

Kopftuchverbot

Endlich bringt es jemand auf den Punkt: Mit dem Kopftuch in der Schule bringt sich der konservative Islam in Stellung. Es ist eben nicht nur das Stückchen Stoff. Wenn Lehrerinnen den Handschlag für Eltern und Kollegen verweigern, keinen Sexualkundeunterricht geben wollen und Mädchen vom Sport und von Klassenfahrten fern halten, geht es um etwas substanziell anderes. In Parallelgesellschaften (z.B. Berlin-Kreuzberg) hat bereits die Scharia Einzug gehalten und einzele Gerichte sinnieren bereits darüber, bei Ehrenmorden "kulturellen Strafrabatt" geben zu wollen. Wollen wir eigentlich eine "islamische Republik Deutschland" ?