Heinz Hilgers im Interview

Kinderschutzbund zu Corona-Lockerungen: Auch auf Kinderrechte achten!

Benedikt Dittrich15. Mai 2020
In der Corona-Krise mussten Eltern oft Arbeit im Homeoffice und die Kinderbetreuung unter einen Hut kriegen.
In der Corona-Krise mussten Eltern oft Arbeit im Homeoffice und die Kinderbetreuung unter einen Hut kriegen.
Kinderschutzbund-Präsident Heinz Hilgers ärgert sich darüber, dass bei den Corona-Lockerungen zuerst an die Wirtschaft und nicht an Familien gedacht wurde. Er pocht auf Einhaltung der Kinderrechte, die auch ins Grundgesetz gehörten.

Herr Hilgers, wie waren Sie als Großvater von der Corona-Krise betroffen?

Wir konnten unsere Enkeltochter lange nicht sehen, das hat sehr weh getan und die hat uns auch sehr vermisst. Ich habe vor einigen Tagen ein Fernsehinterview gegeben und als das ausgestrahlt wurde, habe ich gerade mit meiner Schwiegertochter telefoniert. Da lief die Tochter währenddessen auf den Fernseher zu und rief „Opa – auf Arme!“. Wenn sie morgens wach wurde, hat sie als erstes die Namen der Kinder aus ihrer Kita-Gruppe aufgezählt, die sie sehr vermisst. Inzwischen haben wir sie aber wieder besuchen können, sie ist gerade zwei Jahre alt geworden.

Heinz Hilgers, Präsident des Deutschen Kinderschutzbund.
Heinz Hilgers, Präsident des Deutschen Kinderschutzbund.

Viele Eltern arbeiten gerade im Homeoffice und betreuen gleichzeitig ihre Kinder. Wie halten die das aus?

Ich beobachte in meinem Umfeld, dass die Restriktionen von allen Menschen geduldig getragen wurden. Aber wenn dann so eine Öffnungsserie kommt, wo zum Beispiel in NRW Möbelhäuser, Fitnessstudios und Nagelstudios öffnen dürfen und man dann die Schlangen vor den Geschäften sieht, dann fragen sich die Eltern natürlich: Nehmen die uns auf den Arm? Ich habe mit vielen jungen Eltern und Jugendlichen gesprochen, die finden das nicht verhältnismäßig wie mit ihren Rechten umgegangen wird – vor allem im Vergleich mit dem Recht auf Gewerbefreiheit.

Gehen Ihnen die Lockerungen im Kita- und Schulbereich also zu langsam?

Das will ich nicht sagen. Aber die Verhältnismäßigkeit stimmt nicht. In der Corona-Krise wurden die Grundrechte von allen Menschen eingeschränkt. Gewerbefreiheit, Recht auf persönliche Entfaltung, das Recht seiner Arbeit nachzugehen. Aber auch Kinderrechte wurden eingeschränkt: Das Recht auf Bildung, soziale Sicherheit, oder das Recht auf Spielen.

Drei Millionen Kinder haben Anspruch auf das Bildungs- und Teilhabepaket, ein Großteil von ihnen wurde in Kitas und Grundschulen kostenlos versorgt. Das mussten jetzt die Eltern übernehmen, die Kosten dafür wurden aber nicht ausgeglichen, obwohl wir und andere Sozialverbände das gefordert haben. Man muss das so sagen: Der Staat hat bei den armen Kindern in der Krise viel Geld gespart. Über die Einschränkungen der Kinderrechte wurde auch nicht so debattiert wie über die Einschränkung der Grundrechte von Erwachsenen.

Eines dieser Rechte ist das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Gibt es schon Hinweise darauf, ob Kinder durch den Stress der Eltern jetzt vermehrt Opfer von Gewalt werden?

In der Kriminalstatistik von 2019 gab es zunächst einen leichten Rückgang bei der körperlichen Gewalt gegen Kinder und bei der Vernachlässigung von Kindern. Beim sexuellen Missbrauch gab es eine deutliche Steigerung. Für 2020 haben wir noch gar keine Zahlen. Aber es ist zu befürchten, dass der Unterschied zwischen dem was wir wissen und dem was tatsächlich passiert, wesentlich größer geworden ist.

Warum?

Kitas und Schulen wurden  geschlossen undbei den Kinderärzten wurden weniger Vorsorgeuntersuchungen durchgeführt . Deswegen gibt es derzeit weniger Meldungen von Kindeswohl-Gefährdungen. Das wird aber kein Rückgang des tatsächlichen Geschehens sein. Ich befürchte das Gegenteil. Das ist nicht nur mein Eindruck aus Gesprächen mit Ortsverbänden des Kinderschutzbundes und Jugenddezernent*innen, sondern auch das Ergebnis von Recherchen großer Medien.

Dieser Rückgang könnte die Ruhe vor dem Sturm sein. Es wird der Tag kommen, an dem die Zahlen explodieren, befürchten die Kolleg*innen vor Ort.

Müsste man dann nicht schon jetzt etwas dagegen unternehmen?

Die Krise ist wie ein Brennglas: Die Situation jetzt zeigt die Probleme auf, die es vorher schon gab. Man braucht nur Kinderarmut, geringe Wirtschafts- und Finanzkraft und Kosten für die Unterbringung von Kindern in den Regionen miteinander vergleichen: Wir haben Gemeinden, die haben die höchsten Kosten in der Jugendhilfe, die höchste Kinderarmut und gleichzeitig besonders wenig Geld zur Verfügung. Das ist eine Katastrophe, weil sie kaum in Prävention investieren können. Städte im Ruhrgebiet, Bremen oder Bremerhaven aber auch Berlin und Eisenhüttenstadt sind in einem Teufelskreis gefangen, aus dem sie sich aus eigener Kraft nicht befreien können. Der Bund schaut dabei zu, wie sich ungleiche Lebensverhältnisse entwickeln – und davon sind ganz besonders die Kinder betroffen.

Der Kinderschutzbund und andere Verbände haben jüngst eine Soforthilfe für arme Eltern gefordert. Hilft das?

Vor dieser Forderung haben wir erst versucht, den Kostenausgleich für die Verpflegung zu erreichen, was leider nicht passiert ist. Stattdessen sollen die Kinder Essen auf Rädern bekommen. Das ist eine Haltung, die hat mit Respekt oder Wertschätzung nichts zu tun. Man traut den betroffenen Eltern nicht zu, dass sie die Kinder selber versorgen können, wenn sie das Geld dafür hätten. Dabei sind viele von ihnen berufstätig! Das sind die Aufstocker*innen, teilweise alleinerziehend, die als Krankenpfleger, Erzieher oder Kassierer arbeiten, die die Regale auffüllen im Supermarkt. Das sind die, die gerade beklatscht werden. Diesem Applaus, dieser Wertschätzung muss konkrete Hilfsbereitschaft folgen, sonst ist sie nichts wert.

Sehen Sie trotz dieser Probleme und Befürchtungen noch positive Aspekte, auf denen man aufbauen könnte, wenn sich die Situation wieder normalisiert?

Es ist schön zu sehen, wie viele junge Väter jetzt mit ihren Kindern unterwegs sind. Es hat auch eine gewisse Entschleunigung gegeben, trotz desm ganzen Stresses, dem Eltern und Kinder zuhause ausgesetzt sind. Bei uns im Rheinland fahren die Menschen sonst für 15 Kilometer eine Stunde zur Arbeit, stehen hin und zurück im Stau. Die haben das Homeoffice vielleicht als gute Alternative für viele Arbeitsplätze erkannt. Vielleicht kann man davon etwas in die Zukunft retten.

Was müsste sich aus Ihrer Sicht ändern, damit die Rechte von Kindern und Eltern künftig vielleicht besser berücksichtigt werden?

Es gab in der Vergangenheit eine Phase der Kinderentwöhnung – Kinder, die in Hotels oder Cafés nicht mehr erwünscht waren, ganze Innenstädte, in denen keine Kinder mehr aufwuchsen. Es wäre schön, wenn wir das etwas zurückdrehen könnten.

Außerdem erhoffe ich mir mehr Engagement in der Politik, dass die Kinderrechte ins Grundgesetz aufgenommen werden. Dann würden sie in der nächsten Krise vielleicht genauso berücksichtigt werden wie die der Erwachsenen. Diese Forderung steht auch im Koalitionsvertrag. Aber die Chancen, dass das in dieser Legislaturperiode noch passiert, stehen eher schlecht. Offenbar will die Union darüber jetzt nicht einmal mehr reden, obwohl sie es ja selbst in ihrem Wahlprogramm versprochen hat. Von der SPD erwarte ich, dass sie laut und vernehmlich auf den Koalitionsvertrag pocht.

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