Kommentar

Karlsruher Sterbehilfe-Urteil: Viel radikaler als erwartet

Christian Rath26. Februar 2020
In Karlsruhe wurde am Mittwoch ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben neu definiert.
So nicht. Das ist die klare Botschaft aus Karlsruhe. Das Verbot der geschäftsmäßigen Hilfe zur Selbsttötung ist verfassungswidrig. Es verstößt gegen ein neu definiertes „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“. Dieses Recht schütze auch, sich beim Sterben helfen zu lassen, so die Richter.

Dabei wären rechtlich auch andere Lösungen für die Richter denkbar gewesen. Denn auch die Befürworter des Gesetzes argumentierten mit dem Schutz der Selbstbestimmung am Lebensende. Sie befürchteten, dass alte Menschen vorschnell und letztlich unfreiwillig aus dem Leben scheiden, weil sie niemand zur Last fallen wollen. Der assistierte Suizid dürfe deshalb nicht zu einer normalen Dienstleistung werden.

Sterben als Akt autonomer Selbstbestimmung

Karlsruhe ist dieser Argumentation aber zurecht nicht gefolgt. Denn wenn man sie ernst nähme, würde sie jede Selbstbestimmung am Lebensende verhindern. Dann wäre nicht nur der assistierte Suizid zu gefährlich, sondern auch das - bisher nicht umstrittene - Recht auf Abbruch einer lebensverlängernden ärztlichen Behandlung. Die Konstellation ist schließlich ganz ähnlich.

Doch Karlsruhe hat nicht nur die Interessen von Todkranken im Blick, sondern geht weit darüber hinaus. Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben ist als Akt autonomer Selbstbestimmung nicht auf das sichtbare Lebensende begrenzt. Insofern ist das Karlsruher Urteil weit radikaler als erwartet.

Recht, sich beim Suizid helfen zu lassen

Auch Menschen, die noch gesund sind und daher durchaus von einer Brücke springen könnten, haben ein Recht, sich beim Suizid helfen zu lassen. Nebenbei haben die Richter damit ein Recht auf einen milden medikamentösen Suizid mit professioneller Begleitung geschaffen.

Überraschend ist auch, dass diese Begleitung nicht in erster Linie von Ärzten geleistet werden soll, sondern von den umstrittenen Sterbehilfe-Vereinen. Die Richter fürchten, dass es viel zu wenig Ärzte gäbe, die hierzu bereit wären. Wollen Ärzte am Lebensende weiter die zentrale Rolle spielen? Dann müssen die von vielen Ärztekammern ausgesprochenen Verbote des ärztlich assistierten Suizids schnell zurückgenommen werden.

Mindeststandards für Suizidhilfe-Vereine nötig

Auf jeden Fall sollte der Bundestag bald ein neues Gesetz beschließen, um Mindeststandards für Suizidhilfe-Vereine festzulegen. Es muss sichergestellt werden, dass vom Recht auf selbstbestimmtes Sterben nur Menschen Gebrauch machen können, die frei verantwortlich entscheiden können. Da nach Angaben von Experten rund 90 Prozent der Suizidversuche Folge von psychischen Krankheiten sind, sollte der Bundestag schnell handeln.

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Kommentare

wieso eigentlich

liegt der Focus der Diskussion auf dem Suizid alter Menschen "Selbstbestimmung am Lebensende". Haben nicht auch jüngere Menschen Anspruch auf Selbstbestimmung? Darf - z.B. ein Rettungssanitäter- dem Entschluss zum Selbstmord bzw seiner Umsetzung entgegenwirken? Das BVG hat díe Büchse der Pandora geöffnet, Ich fürchte, diese Entscheidung wird es selbst bald bereuen.
Dass der VORWÄRTS hier zu jubeln beginnt, ist kurzsichtig und befremdlich

Jubel?

Möchten Sie Ihre These, der „vorwärts“ beginne zu jubeln, ein wenig begründen?

Selbstbestimmung und Lebensschutz

Das BVG ist seiner Auslegungstradition treu geblieben. Den Einzelnen vor dem Übergriff der Mehrheit [der Relikte der Weimarer Republik] schützen. Hier ging es nicht allein um ein selbstbestimmtes Lebensende, sondern auch um selbstbestimmte Lebensqualität. Sicher muss nun das Berufsrecht für Ärzte und Apotheker angepasst werden. Medizinisches Personal wie Heilpraktiker müssen ausgeschlossen bleiben. Beratungspflicht, Fristen und Doppelgutachten werden folgen. Mündigkeit und psychiatrische Unzurechnungsfähigkeit werden abzuwägen sein, aber das BVG hat von seiner üblichen Endpunktbetrachtung aus der Sicht des Einzelnen alle Rechtsgüter abgewogen, auch die eines parlamentarischen Prozesses. Die Würde DES Menschen ist unantastbar, nicht die Würde DER Menschen. Der Staat muss nun den Einzelnen nun vor andersartigen Gruppendruck schützen. "Ich gehe, weil ich es will, nicht weil ihr das wollt." bleibt eine harte Nuss. Und nicht zu früh freuen. Nicht nur die sogenannte Lebensschützer werden dieses Urteil aufmerksam studieren. Die Endpunktbetrachtung des Einzelnen macht vor der Geburt nicht halt. "Mein Bauch gehört mir", aber nicht was darin wächst. Das hat das BVG hier schon vorgezeichnet.

Der Tod als geschäftsmäßige

Der Tod als geschäftsmäßige Dienstleistung, da sage ich nein. Insoweit hat das BVG die Büchse der Pandorra weit geöffnet. Ich gefürchte einen kommenden Druck, welches auf das "sozialverträgliche Frühableben", besonders für kranke und alte Menschen hinauslaufen könnte.
Um Missbrauch vorzubeugen, ist eine sorgsame Gesetzgebung unabdingbar.