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Warum Kapitalismuskritik für die Sozialdemokratie so wichtig ist

Christian Krell14. November 2017
Wie lässt sich das Spanungsverhältnis von Kapitalismus und Demokratie produktiv nutzen?
Die Widersprüche des Kapitalismus zum Nutzen der Gesellschaft auflösen – wird die Sozialdemokratie dieser Aufgabe noch gerecht? Christian Krell analysiert, was die europäische Sozialdemokratie tun muss, um ihren eigenen Niedergang zu bekämpfen.

Es gibt eine Reihe nationaler Umstände, die zu den historisch schlechten Wahlergebnissen sozialdemokratischer Parteien in Europa beigetragen haben. Dazu gehören personelle Gegebenheiten wie etwa der Ballast, den der erratisch agierende französische Staatspräsident Hollande für seine eigene Parti Socialiste bedeutete. Dazu gehören grobe handwerkliche Fehler bei der Kampagnenplanung wie etwa die – wiederholt! – zu spät erfolgte Entscheidung in der deutschen Sozialdemokratie für einen Spitzenkandidaten oder die fatale Beauftragung zwielichtiger Figuren für Schmutzkampagnen, wie sie offenbar bei der österreichischen SPÖ erfolgte. Und dazu gehören interne Streitigkeiten innerhalb der Parteien oder im linken Lager insgesamt, wie etwa die lange Zeit lähmenden Flügelkämpfe in der britischen Labour Party.

Sozialdemokratisches Ziel: den Kapitalismus biegen

Diese Tatsachen haben jeweils zum schlechten Abschneiden und mitunter zum faktischen Tod dieser Parteien beigetragen. Zugleich ist der Niedergang der Sozialdemokratie ein europaweites Phänomen. Es gibt neben den jeweiligen nationalen Umständen eine Reihe von strukturellen Ursachen, mit denen fast alle sozialdemokratischen Parteien Europas konfrontiert sind.  Eine dieser Ursachen soll hier angesprochen werden: Die verlorengegangene Fähigkeit der Sozialdemokratie zur Kapitalismuskritik.

Die Sozialdemokratie hat immer die spannungsreiche Beziehung von Kapitalismus und Demokratie in den Blick genommen. Demokratie setzte Gleichheit voraus. One man, one vote. Es geht um gleiche Macht und gleiche Chancen, mitzuentscheiden und teilzuhaben am gesellschaftlichen Wohlstand. Kapitalismus aber erzeugt Ungleichheit. Dieses grundsätzliche Spannungsverhältnis hat die politische Linke seit ihrem Aufkommen im 19. Jahrhundert immer beschäftigt.

Dabei wurden zunächst vor allem Ansätze entwickelt, den Kapitalismus gänzlich zu überwinden. In der deutschen Sozialdemokratie hat sich aber in einem längeren Entwicklungsprozess spätestens in den 1920er Jahren die Erkenntnis durchgesetzt, dass man den Kapitalismus zwar nicht brechen, aber immerhin ein ganzes Stück weit biegen kann. Dieser Prozess ist mit prominenten Vordenkern wie Rudolf Hilferding oder Eduard Bernstein verbunden. Es ging darum, die produktiven Kräfte des Kapitalismus zu nutzen und seine zerstörerischen, Ungleichheiten befördernden Tendenzen einzuhegen.

Seit 1989: Anpassen statt gestalten

Mit dieser Idee gelang es zunächst in Skandinavien und später auch in anderen Teilen Europas, das Spanungsverhältnis von Kapitalismus und Demokratie produktiv zu nutzen. Insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg konnten so einerseits Marktfreiheit und andererseits relative soziale Sicherheit und sozialer Austausch verwirklicht werden. Instrument dafür war überwiegend der demokratisch regierte Nationalstaat.

Mit der Zeitenwende 1989, dem Aufkommen und Durchmarsch des Neoliberalismus in den 1970er und 1980er Jahren und beschleunigt durch neue Technologien gewann eine neue Form des Kapitalismus an Bedeutung: ein autoritärer, globaler und digitaler Kapitalismus. Die Machtbalance zwischen demokratischer Politik und Kapitalismus löste sich auf in Richtung eines durchsetzungsstarken und wirkmächtigen Kapitalismus.

Nationale Schutzmechanismen, die für soziale Sicherheit und Ausgleich gesorgt hatten, wurden dabei sukzessive ausgehebelt. Die europäische Sozialdemokratie hat darauf in den 1990er Jahren keine kapitalismuskritische Antwort gefunden. Im Gegenteil: Der Mode der Zeit entsprechend wurden die Chancen der New Economy gefeiert. Dabei folgte man einer doppelten Logik: Erstens wurde als gegeben angenommen, dass die Globalisierung und der internationale Kapitalismus nicht veränderbar seien. Man könne diese Entwicklungen nicht stoppen oder gestalten, man müsse sich ihnen anpassen. Zweitens bestand die Hoffnung, dass die freigesetzten Märkte eine solche Produktivkraft entfalten würden, dass soziale Wohlfahrt und Arbeit für alle quasi automatisch entstünden.

Kapitalismusbejahung als Mainstream

Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus, wie sie über Jahrzehnte prägend war für sozialdemokratische Parteien, wurde kaum mehr verfolgt; sie war zumindest nicht öffentlich wahrnehmbar. Damit wurde eine entscheidende Differenz zur politischen Rechten aufgegeben. Für die Wählermärkte bedeutete das, dass – wer nicht die radikale Linke wählen wollte – nur noch unterschiedliche Formen von unkritischer Kapitalismusbejahung wählen konnten.

Deshalb gelang es der Sozialdemokratie auch nach der Wirtschafts- und Finanzmarktkrise seit 2008 und im Rahmen der zunehmenden Kritik am Neoliberalismus nicht, als diejenige Kraft wahrgenommen zu werden, die mit ihrem fast 150-jährigen Erfahrungsschatz an produktiver Einhegung des ungezügelten Kapitalismus nun das Heft des Handelns in die Hand nehmen sollte. Diese Tradition war nicht mehr erkennbar.

Digitaler Kapitalismus und ständige Unsicherheit

Das ist besonders fatal in Zeiten, in denen ein neuer digitaler Kapitalismus die Welt prägt. Digitale Technologien haben in nahezu allen Teilen der Erde fast alle Bereiche des Lebens durchdrungen. Geprägt wird diese Entwicklung von einigen wenigen Monopolisten, die somit über die wichtigsten Ressourcen unseres Zusammenlebens entscheiden und dabei vor allem Profite erwirtschaften wollen, unabhängig von den gesellschaftlichen Konsequenzen.

Es ist wichtig zu verstehen, dass der beschleunigte Kapitalismus nicht nur einen materiellen Preis für signifikante Teile der Bevölkerung hat, der sich etwa in Form von Reallohnverlusten, abnehmender Tarifbindung oder fragileren Arbeitsbeziehungen äußert. Er hat auch zu einer mitunter permanenten Verunsicherung in und Abwertung von ganzen Teilen der Bevölkerung geführt. Der Soziologie Hartmut Rosa konstatiert im Zusammenhang damit ständige Unsicherheit und das Gefühl, das eigene Leben nicht mehr unter Kontrolle zu haben. Erwerbsbiographien werden brüchiger, es gibt wachsende Anforderungen an Mobilität und Flexibilität und nichts scheint mehr sicher oder planbar. Wer in ständiger Angst und Unsicherheit lebt, wer das Gefühl hat, ständig kämpfen zu müssen, um den einmal erreichten Status zumindest zu halten – der findet Halt im diffusen Identitätsangebot des Populismus.

Europäische Sozialdemokratie muss Kernkompetenz zurückgewinnen

Mit der Ohnmachtserfahrung gegenüber dem eigenen Leben geht das Gefühl einher, auch die eigene Umwelt nicht mehr gestalten zu können. Politik und politische Eliten scheinen nicht mehr – so die Wahrnehmung in einem Teil der Bevölkerung – auf die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger zu reagieren. Die Stimme der Bürger findet, so Rosa, keine Resonanz. Vielmehr werden die politischen Entscheidungsträger als abgehoben und elitär wahrgenommen. Sie erscheinen schlichtweg nicht als Akteure, mittels derer das eigene Umfeld im eigenen Interesse gestaltet werden kann.

Der europäischen Sozialdemokratie ist es grosso modo nicht gelungen, das Gefühl von Gestaltbarkeit und Steuerungsfähigkeit in Zeiten dieser mannigfaltigen Herausforderungen glaubhaft zu repräsentieren. Blocher, Le Pen oder Farage hingegen geben das Gefühl der Gestaltbarkeit zurück und sind gerade deshalb so attraktiv.

Eine moderne Sozialdemokratie muss – ihrer Tradition folgend – die Kernkompetenz zurückgewinnen, die Widersprüche des Kapitalismus zum Nutzen der gesamten Gesellschaft aufzulösen. Dafür muss sie den Bürgern wieder ein glaubhaftes Angebot machen, an ihrer Seite auch die neuen gesellschaftlichen Herausforderungen der Globalisierung und Digitalisierung gestaltbar zu machen. Die moderne Sozialdemokratie steht also vor der Aufgabe, den Menschen die Sicherheit, die Wertschätzung und die Selbstbestimmung des eigenen Lebens zurückzugeben – auch und gerade in stürmischen Zeiten.

Internationale Politik und Gesellschaft (IPG)

Dieser Beitrag erschien zunächst im Journal „Internationale Politik und Gesellschaft (IPG)“ unter dem Titel: Kapitalismuskritik, war da was? Was die europäische Sozialdemokratie tun muss, um ihren Niedergang zu bekämpfen.

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Kommentare

Welche sozialdemokratischen Kernkompetenzen?

Wie wahr! „Die moderne Sozialdemokratie steht also vor der Aufgabe, den Menschen die Sicherheit, die Wertschätzung und die Selbstbestimmung des eigenen Lebens zurück zu geben“ Selbstbestimmung generiert sich aus den Möglichkeiten der Partizipation und hier braucht es mehr Möglichkeiten, unabhängig davon ob man ü er viel oder wenig Geld verfügt. Heute kann man alles, wenn man das nötige Geld hat und nichts, wenn das Geld fehlt. Eine Gesellschaft die nur auf Kommerz orientiert ist, wird so auch den Einzelnen zur Marke degradieren, dessen Stellung von seinem Verkaufswert. Estimierter wird. Keine schönen Aussichten und hier braucht es klare Alternativen aus der Sozialdemokratie.

Korrektur

Verkaufswert ermittelt wird – sollte es heißen!

"Heute kann man alles, wenn man das nötige Geld hat"

Der Staat oder eine politische Partei wie die SPD können den Bürgern nicht reiche Eltern mit dem nötigen Geld garantieren. Sie können aber weitgehende Chancengleichheit bei Bildung und Ausbildung schaffen, einer wichtigen Voraussetzung um das "nötige Geld" für eine selbstbestimmte Lebensführung zu haben. Als Kind von Hilfsarbeitern habe ich die besonders von der SPD geschaffenen Möglichkeiten von Bildung und Ausbildung in diesem Land genutzt. Ich sehe nicht wo es hier "klare Alternativen aus der Sozialdemokratie" braucht. Es sei denn, man möchte die Verantwortung für das eigene Leben gänzlich in die Hand des Staates legen und sich voll umfänglich versorgen und leiten lassen.

Welche Bildung und welche Chancengleichheit sind gemeint

Wer in einem staatlichen Schulsystem ausgebildet wurde, hat nicht die gleichen Chancen, wie einer der auf eines der Eliteinternate (Salem, Birkelhof etc.) geht. Bildung ist nicht gleich Bildung. Die SPD muss aufpassen hier nicht fortgesetzt Klischees zu bedienen. Was zählt heute noch ein Hauptschulabschluss? Heute bewerben sich Abiturienten um Ausbildungsstellen, für die eine gute Mittlerereife reichen sollte. Wir dürfen nicht die Augen verschließen, wie viele gut ausgebildete Mitbürger unter prekären Verhältnissen arbeiten (Journalisten, Musiklehrer, diplomierte Biologen, Historiker etc.) . Bitte, das sind keine Leute die danach streben sich vollumfänglich versorgen zu lassen. Im Übrigen ist das ein Mythos zu glauben in unserem Staat könne man sich vollumfänglich versorgen lassen. Eine sozialdemokratische Bildungspolitik darf sich nicht damit zufrieden geben, das ein Abschluss erreicht wird, der Abschluss muss auch nachhaltige Wertigkeit besitzen. Fragen wir die Unternehmer, die ausbilden und Lehrstellen vergeben, was aus den Schulen für Absolventen entlassen werden. Das Bild ist nicht so rosig, wie gerne kolportiert wird.

Bildung ist nicht gleich Bildung

Alle Schüler in "Eliteinternate" zu schicken ist nicht möglich und leider auch nicht finanzierbar. Wer sich im staatlichen Schulsystem nur wenig anstrengt und einen Hauptschulabschluss schafft, findet leicht eine Lehrstelle. Das gilt erst recht für Abiturienten. Wer studiert, sollte bei der Wahl des Faches auch darauf schauen, was er mit einem Abschluss anfangen kann. Als Journalist, Musiklehrer, diplomierter Biologe oder Historiker muss ich mit Problemen rechnen eine gut bezahlte Stelle zu finden. Im Maschinenbau, der IT und der Elektrotechnik sieht das ganz anders aus. Aber auch dort (eigene Erfahrung) ist ständiges Um- und dazulernen erforderlich. Nichts ist beständiger im Leben als die Veränderung, wer dem nicht Rechnung trägt fällt leicht hinten runter. Das ist meine Erfahrung in 70 Lebensjahren.

wer dem nicht Rechnung trägt fällt leicht hinten runter

Sicher ist das so in den real existierenden Gesellschaften Europas und Nordamerikas. Aber wollen wir das hinnehmen? Ist uns nicht jede gesellschaftlich sinnvolle Arbeit wichtig? Wer würde auf die Müllabfuhr oder die Reinigung öffentlicher Toiletten verzichten wollen, wenn plötzlich alle ihre "Chancen" erfolgreich nutzen könnten?
Und verdienen die Menschen, die, auch für uns besser Verdienenden, diese Arbeit machen nicht mehr als denselben "Respekt" wie wir? Z.B. eine gute Bezahlung?
Die SPD als Partei kann sicher nicht alle Übel dieser Welt beseitigen. Sie sollte es auch nicht versuchen - das hat Oskar Lafontaine schon 1986 geschrieben. Aber als Teil der gesellschaftlichen Linken, zusamen mit Gewerkschaften und Verbänden, wäre es sehr wohl möglich, hier zu einem grundsätzlichen Umdenken zu kommen, und das auch praktisch wirksam werden zu lassen. Nur scheint dieses Denken mit dem Mauerfall verloren gegangen zu sein.

Der Artikel trifft es sehr gut.Aber!!

Das der Kapitalsimus diese Wirkung hat ist ja wohl der SPD zu verdanken.Die Lafontaine mit voller absicht demontierte durch Schröder und seinen Seeheimerkreis.Das man die Rechte und Interessen der Unter- und Mittelschicht mit füßen getreten hat ist ein Fakt den jeder Leistungserbringer erlebt Tag für Tag.Deshalb wird nur eine rhetorische Wende nichts bringen,wir brauchen Taten die unser Leben verbessern und uns wieder Teilhaben lässt an der Gesellschaft und zwar Mittel- und Unterschicht gleichermaßen.Den Preis dafür muss die Oberschicht zahlen und das wird auch nicht verhandelt.Das die SPD weiterhin diese asozialen Handelsabkommen unterstützt ist keine Kapitalismuskritik sondern deren Ausweitung.Der Widerstand der Bürger gegen diese Abkommen scheint die SPD nicht zu interessieren und dafür gab es die 20,5%, zu recht.Arbeitsrechte und die Herabsetzung der wöchentlichen Arbeitszeit von max. 48 Stunden auf max. 40 Stunden und die Einführung der 30,35Stunden Woche mit vollem Lohnausgleich ist für den Digitalenwandel dringend erforderlich um diesen abzufedern.Aber die SPD macht dahingehend keinerlei anstalten dies zu tun.Für wen kämpft ihr eigentlich???

Was ist mit den Agenda 2010 Verbrechen??

Wie die Flexi-Verträge,Werkverträge und Leiharbeit.
1.Flexi-Verträge müssen abgeschafft werden weil es Arbeitssklaverei ist.
2.Werkverträge nur mit 20% mehr als den Mindestlohn entlohnen und nur eingeschränkt anwenden.
3.Leiharbeit war eigentlich zur Abdeckung von Produktionsspitzen oder Engpässen gedacht. Und deshalb muss Leiharbeit mit 15% höheren Löhnen als die Stammbelegschaft bezahlt werden und zwar für die Arbeitnehmer die Vermittlungsgebühr muss noch oben drauf.
Wer das nicht als Konkret und Faktisch bezeichnet der will nichts ändern.

Was ist mit Bürgerrechten?

Die SPD hat alles unterschrieben was die Union bei der Schleifung der Bürgerrechte wollte.Das man die Gefährder nicht überwachen kann weil man die Sicherheitskräfte tot sparte,aber 80 Mio. Deutsche einer Generalüberwachung unterzieht. Und dabei den Geheimdiensten so viel Macht gibt, das die ein Staat im Staate werden, wie in den USA, ist ein Verfassungsbruch und unterhöhlt unsere Demokratie. Das die Gegenöffentlichkeit was die Bargeld Abschaffung angeht sieht die SPD die Gefahr der Überwachung von unschuldigen Bürgern gar nicht und die Möglichkeit das man Kritiker verfolgen kann und sie dann elimenieren oder finanzielle vernichten kann,wie es auch schon in der Vergangenheit geschehen ist, oder versucht wurde.