Interview

Wie sich der Kapitalismus nach Corona verändern muss

Kai Doering15. Mai 2020
Grafiti in Berlin: Der Kapitalismus ist für derart tiefe Krisen wie sie zurzeit die Corona-Pandemie verursacht, überhaupt nicht gerüstet, sagt der Wirtschaftspublizist Wolfgang Kessler.
Grafiti in Berlin: Der Kapitalismus ist für derart tiefe Krisen wie sie zurzeit die Corona-Pandemie verursacht, überhaupt nicht gerüstet, sagt der Wirtschaftspublizist Wolfgang Kessler.
Der Kapitalismus ist einer Situation wie der Corona-Krise nicht gewachsen, meint der Wirtschaftspublizist Wolfgang Kessler. Im Interview sagt er, wie sich das Wirtschaftssystem ändern sollte, wie wichtig ein starker Sozialstaat ist und warum ein Bedingungsloses Grundeinkommen im Moment nicht hilft.

Das Coronavirus hat die Weltwirtschaft hart getroffen. Vielen Ländern droht eine Rezession. Ist der Kapitalismus für eine globale Pandemie dieses Ausmaßes nicht ausreichend gerüstet?

Der Kapitalismus ist für derart tiefe Krisen wie sie zurzeit die Corona-Pandemie verursacht, überhaupt nicht gerüstet. Das hat sich bereits in der Finanzkrise gezeigt und es zeigt sich zum Teil auch in der Klimakrise. Der neoliberale Kapitalismus ist ein Schönwetter-Programm, in dem es viel zu gewinnen gibt, wenn die Rahmenbedingungen gut sind, der aber große Probleme bekommt, sobald ein paar Wolken aufziehen. Die Hohepriester des Neoliberalismus behaupten ja immer, der Staat sei das Problem und der Markt die Rettung. Jetzt in der Krise zeigt sich: Es ist genau umgekehrt.

Wie müsste sich der Kapitalismus ändern, um krisenfester zu werden?

Das erste Instrument, um Krisen abzufedern, ist der Sozialstaat. Im Gegensatz zu anderen Ländern ist er in Deutschland zum Glück noch weitgehend intakt. Ein zweites Element, um den Kapitalismus krisenfester zu machen, wäre eine stärkere Rolle des Staates und der Bürger in der Wirtschaft. Ich würde zum Beispiel einen großen Investitionsfonds zur Unterstützung von Unternehmen für sinnvoll halten, an dem sich auch die Bürger beteiligen können. Das wäre eine Möglichkeit, die Unternehmen zu demokratisieren und das Produktivvermögen der Wirtschaft langfristig gerechter zu verteilen. Gleichzeit muss eine staatliche Absicherung aller Bürger garantiert sein, um ihnen Zukunftsängste zu nehmen.

Wolfgang Kessler

Während in den USA innerhalb von Tagen Millionen Menschen arbeitslos geworden sind, sichert in Deutschland die Kurzarbeit bislang die meisten Arbeitsplätze. Zeigt sich in der Krise die Stärke der sozialen Marktwirtschaft?

Ja und nein. In der Corona-Krise hat der Staat sehr schnell mit Hilfsprogrammen reagiert und so Schlimmeres verhindert. Auch den Verwundbarsten wie Selbstständigen und Kulturschaffenden wurde, im Gegensatz zu vielen anderen Ländern, schnell geholfen. Auf der anderen Seite zeigen sich gerade die Schwächen unserer sozialen Marktwirtschaft wie die weitgehende Privatisierung unseres Gesundheitssystems durch fehlende Analysekapazitäten von Corona-Tests und den Personalnotstand in Pflegeeinrichtungen.

In welchen Ländern macht sich das besonders bemerkbar?

Da habe ich die Hochkulturen des Neoliberalismus im Blick: die USA und Großbritannien. Das amerikanische Gesundheitssystem ist pro Person doppelt so teuer wie in Deutschland und kommt doch nur einer kleinen Gruppe zugute. Das ist skandalös. Nicht umsonst zählen mehr als die Hälfte aller bisherigen Corona-Toten in den USA zum ärmsten Teil der Bevölkerung.

In der Corona-Krise war schnell die Rede von systemrelevanten Berufen. Für Pflegepersonal wurde applaudiert. Sehen Sie eine Chance, dass gerade ein generelles Umdenken stattfindet oder ist nach Corona alles so wie vorher?

Ich habe den Eindruck, in der Bevölkerung findet dieses Umdenken statt. Ob es dauerhaft bis hoch zu den Entscheidern reichen wird, bleibt abzuwarten. Ich hoffe es auf jeden Fall. Immerhin hat der Bundesgesundheitsminister gesagt, dass Pflegekräfte künftig tarifvertraglich bezahlt werden sollen. Das ist schon mal gut. Über Applaus hinaus brauchen wir endlich die Einsicht, dass Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt werden müssen. Und auch die Ausbildung muss aufgewertet werden.

Sie fordern seit langem, der Kapitalismus müsse grundlegend verändert werden. Bereits vor Ausbruch des Corona-Virus hat in Deutschland die Kritik am Wirtschaftssystem zugenommen, etwa mit der Forderung, dass Wohnraum keine Ware sein dürfe. Freut Sie das?

Ich finde es sehr positiv, dass inzwischen ganz offen über staatliche Beteiligungen an der Wirtschaft gesprochen wird, während man noch vor wenigen Wochen hasserfüllte Kommentare über diejenige gelesen hat, die das Wort Enteignung nur in den Mund genommen haben. Für mich ist klar, dass soziale Grundbedürfnisse wie Wohnen, Gesundheit, Pflege oder Verkehr nicht kapitalistischen Renditekriterien unterworfen werden dürfen. Das heißt nicht, dass all das vom Staat betrieben werden muss. Das können auch gemeinnützige Organisationen übernehmen oder Genossenschaften. Sichergestellt sein muss nur, dass der Betrieb nicht gewinnorientiert ist.

Können Verstaatlichungen in manchen Bereichen sinnvoll sein?

Verstaatlichungen sind kein Patentrezept, um die Wirtschaft zu demokratisieren. Allerdings kann staatlicher Einfluss Krisen verhindern und Innovationen im Sinne der Gesellschaft voranbringen. Besonders wichtig ist er in Institutionen der Grundversorgung in denen die Menschen im Mittelpunkt stehen müssen und nicht die Rendite der Eigentümer.

Manche Länder wie etwa Dänemark knüpfen staatliche Hilfen daran, dass die Unternehmen nachweisen müssen, dass sie keine Gewinne in Steueroasen geparkt haben. Warum ist das in Deutschland nicht so?

Ich habe seit vielen Jahren den Eindruck, dass die deutsche Politik und insbesondere die große Koalition sehr vorsichtig ist, bei Eingriffen in die Wirtschaft und überhaupt gegenüber den großen Unternehmen. Ich habe zum Beispiel immer gehofft, dass Deutschland endlich mal wieder einen Verkehrsminister bekommt und keinen Autominister. Deshalb finde ich es gut, wenn eine Regierung ihre Hilfe an bestimmte Bedingungen knüpft. Was in Dänemark möglich ist, sollte auch in Deutschland gehen. Auch bei uns gäbe es viele Gründe, Unterstützungen für Unternehmen zu hinterfragen – etwa, wenn sie trotz Kurzarbeitergeld satte Dividenden ausschütten. Der Staat muss den Verlierern helfen und nicht den Gewinnern.

Auch das Bedingungslose Grundeinkommen erhält vor dem Hintergrund von Corona neuen Auftrieb. Könnte es den Menschen in Deutschland helfen, besser durch die Krise zu kommen?

Für die Bewältigung der akuten Krise ist das Bedingungslose Grundeinkommen nicht die Lösung. Die Menschen sind vollkommen unterschiedlich von den Auswirkungen der Corona-Krise betroffen. Die meisten Beamten oder Angestellten beziehen ganz normal ihren Lohn weiter, während andere Berufe überproportional betroffen sind und vor dem Aus stehen. In der Krise wäre deshalb ein bedingtes Grundeinkommen für diese Gruppen sinnvoll, aber kein bedingungsloses für alle. Für die Zukunft halte ich das Bedingungslose Grundeinkommen aber für wichtig, weil es eine gute Antwort ist auf die Herausforderungen einer flexibilisierten, digitalen Wirtschaft. In dieser neuen Arbeitswelt kann ein Grundeinkommen die Menschen nach unten absichern. Es sollte aber steuerlich gegengerechnet werden: Wer mehr Arbeitseinkommen hat, sollte weniger Grundeinkommen erhalten als der, der weniger Arbeitseinkommen hat. Und wer arbeitet, muss immer mehr verdienen als derjenige, der nicht arbeitet. So ließe sich das Grundeinkommen als Trampolin benutzen, um selbstbestimmt etwas zu gestalten.

In der Corona-Krise ist die Kritik am Kapitalismus nochmal deutlich lauter geworden. Sehen Sie in der Krise eine Chance auf echte Veränderung?

Der Begriff Chance klingt im Zusammenhang mit Corona immer etwas zynisch, aber ich denke schon, dass wir die gegenwärtige Situation zu einer Chance werden lassen können, wenn wir danach nicht dieselbe Wachstumspolitik wieder eröffnen als wäre nichts gewesen. Wir sollten ganz klar unterscheiden, welche Art von Wirtschaftspolitik nachhaltig ist und überlegen, welche Branchen wir verändern müssen. Wir sollten zum Beispiel nicht anstreben, dass nach der Corona-Krise wieder so viel geflogen wird wie vorher. Stattdessen sollte das Verkehrssystem in Richtung Klimafreundlichkeit umgebaut werden. Und wir sollten die Krise für ein Stück Entglobalisierung nutzen, um etwa die industrialisierte Landwirtschaft zurückzudrängen, ohne dabei in einen Nationalismus zurückzufallen.

Der Gesprächspartner

Wolfgang Kessler: Die Kunst, den Kapitalismus zu verändern

Wolfgang Kessler ist Wirtschaft- und Sozialwissenschaftler sowie Publizist. Er war von 1999 bis 2019 Chefredakteur der kirchenunabhängigen christlichen Zeitschrift „Publik-Forum“. In diesem Jahr erhält Kessler den Walter-Dirks-Preis für engagierten Journalismus für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung.

2019 erschien sein Buch „Die Kunst, den Kapitalismus zu verändern“ (ISBN 978-3880953307, 15 Euro) im Publik-Forum Verlag.

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Kommentare

Erhört die Rufer in der wirtschaftspolitischen Wüste !

Leider werden die Erkenntnisse und Vorschläge "unbequemer" wirtschaftswiss. Publizisten wie Wolfgang Kessler selbst in den vom althergebrachten zunehmend globalis., ausschließlich Maximalprofit-orientierten und gemeinwohlfernen, auf Ausbeutung von Mensch u. Natur basierenden, Wirtschaftsmodells hervorgebrachten laufenden Katastrophen wie Covid-19 Pandemie, Klimakatastrophe, Artensterben etc., weder medial breit und den Umständen entsprechend in die Diskussion gebracht, noch von den aktuellen Politakteuren in D und auf EU-Ebene als Anstoß zum jetzt so dringend notwendigen Umlenken genutzt !
Da lob ich mir mal wieder den "Vorwärts" u. sein Personal dass zeitnah, thematisch u. faktenreich immer am Ball bleibt und bei d. geneigten Lesern nach Lektüre kein Zweifel entstehen dürfte wohin die Zeichen der Zeit weisen ! Meine Erkenntnis: Es wäre grob falsch gerade in der akt. Krisenzeit wieder auf die Big-Player der Wirtschaft zu setzen, die f. Katastr. verantw. sind . Es müssen schleunigst Strukturen geschaffen werden, die Menschen aus ihrer gesellschaftl. Passivrolle holen und mit Mitteln versehen die eine diesbezügliche angstfreie Beteilig. am Wirtschafts- u. Gesellsch.leben erlauben !

Kapitalismus

Das Charakteristikum der kapitalistischen Produktionsweise ist das unbegrenztes Wachstum, basierend auf der Ausbeutung des Menschen und der natürlichen Resourcen (was anderes ist auch dem "real existierenden nicht eingefallen, wenn auch die Verteilung anders war). Wir müssen begreifen, daß sich hinter Corona eine klassische Überproduktionskrise des K. verbirgt. Wenn "der Staat" jetzt Milliarden "in die Hand nimmt" um "die Wirtschaft" zu retten kommt es darauf an ob das im Sinne der kapitalistischen Produktionsweise oder im Sinne einer Gemeinwirtschaft geschieht. z.B. die BAHN befindet sich zwar im Staatsbesitz wird aber nicht im Sinne einer gemeinwirtschaftlichen sozialökologischen Wende, sondern wie ein kapitalistischer Betrieb, geführt. Also "verstaatlichen" bringt zuerst mal gar nichts. Entscheident ist ob ein Betrieb zum Nutzen und Frommen der Allgemeinheit der zur Profitgenerierung geführt wird (Bahn: hier verkommt die Infrastruktur, auch Dank Prestigeobjekten, aber der Konzern expandiert im Ausland). Aller dings brauchen "wir" solche Konzerene zu postpolitischen Verwendung von ...... . Richtung sozialökologischer Wende ist da noch ein beschwerlicher Weg.

Kapitalismus 2

Was ich zur Bahn geschrieben habe gilt auch für andere Basisversorgungsunternehmen - früher kümmerten sich um sowas Ministerien, jetzt gibt es da Konzernherren mit Millionengehältern, während die Gehälter der Arbeitenden gekürzt werden.
Die Aufgabe der SPD muss es sein für revolutionäre Reformen in Richtung sozialökologische Wende einzutreten, die die Macht der Konzerne minimiert und den Menschen in diesem Lande mehr soziale Sicherheit, mehr Demokratie und mehr Mitgestaltung gewährleistet. Das derzeitige Rumgeeiere treibt die Menschen den Rechten in die Arme. Statt Schmusen mit den Konzernherren ist konsequente sozialdemokratische Politik gefordert, und das traue ich weder der Frau Baerbock noch der Frau Kipping zu.
Das Kapital nutzt die Krise, denn dazu ist sie da, und mit Entsetzen musste ich lesen, daß z.B. die PSOE Regierunbg in Spanien die Laufzeit für Atomkraftwerke verlängert hat. Auch der CDU Wirtschaftsrat fordert die Abkehr vom Öko- und Sozialklimbim; dagegen gilt es zu mobilisieren.

Wie sich der Kapitalismus nach Corona verändern muss

Ich habe Wolfgang Kessler drei Mal in Vorträgen und anschließenden Diskussionen erlebt. Kessler ist ein kluger Mann, der sein Thema voll im Griff hat. Außerordentlich kenntnisreich mit einer enormen Vielzahl von sehr guten, praxistauglichen Vorschlägen - jedenfalls zur Verbesserung des heutigen Wirtschaftssystems. Wenn die SPD diese Vorschläge stetig, konsequent umsetzen - und dabei andere Parteien "mitnehmen" könnte - würden wir in einem recht akzeptablen Sozialstaat leben können. Im
Vergleich zur real existierenden Gegenwart wäre dies ein sehr großer Fortschritt! Kessler ist für mich auf dem Weg in eine Wirtschaftsdemokratie in einem "sozialen" Kapitalismus. Er spricht von Veränderung des Kapitalismus und der Untauglichkeit des neoliberalen Kapitalismus. Er will jedoch (anscheinend) nicht in Gänze raus aus dem Kapitalismus . Für mich ist das insofern inkonsequent, als dass es einen Kapitalismus ohne die dem Kapitalismus zwingend innewohnenden Wesensmerkmale:
Konkurrenz/Standortlogik; (exponentiellen) Wachstumszwang; Profitmaximierung; Kapitalakkumulation; riesigen Rohstoff-/Naturverbrauch; extremsten Schadstoffausstoß/Überlastung der Senken - begrifflich und real nicht gibt!

Wie sich der Kapitalismus ... II

Dazu muss man sich verdeutlichen, dass es Kapitalismus ohne die Ausbeutung von Mensch und Natur nicht geben kann. Diese Ausbeutung von Mensch und Natur ist im Kapitalismus wesensmäßig keine Frage des 'OB', sondern nur des Grades. Die Ausbeutung im Kapitalismus kann vergleichsweise weniger brutal - "sozialer" bzw. vergleichsweise weniger antiökologisch gestaltet werden. Aber die Ausbeutung von Mensch und Natur an sich ist im Kapitalismus wesensmäßig nicht verzichtbar, weil sie die unerlässliche Voraussetzung für die Gestaltung der Konkurrenz, des (exponentiellen) Wachstumszwangs, der Profitmaximierung und Kapitalakkumulation ist. Die Kategorien 'sozial' und 'ethisch' sind dem Kapitalismus wesensfremd. Wer eine solidarische, sozial gerechte, kooperative, menschenwürdige, menschenfreundliche, ökologiekompatible Wirtschaftsform (auch global!) anstrebt und letztlich durchsetzen will, kann diese nicht mehr als Kapitalismus bezeichnen. Ob eine solche solidarische etc. Wirtschaftsform realisierbar/durchsetzbar ist, sollte eine globale Vernunftfrage sein.

So wie die Dinge derzeit weltweit immer noch liegen ist jedoch zu befürchten, dass es eine schonungslose Machtfrage sein wird.