
Seit Wochen geht es in Chat-Gruppen türkischer Mütter hoch her. Wann öffnen die Schulen, öffnen sie überhaupt, was tun wir, wenn sie es nicht tun? Melmet R. ist Naturkundelehrerin in Istanbul und Mutter zweier Kinder. Aus Unsicherheit unterrichtet sie seit Wochen ihren jüngeren Sohn selber. Er seit wenigen Tagen steht fest: Präsenzunterricht gibt es vorerst nur für türkische Vorschüler und Erstklässler, und auch nur an einem Tag pro Woche. Nächste Woche sollen es zwei Tage werden. Alle anderen Schüler werden weiter per Fernseh- und Onlineunterricht beschult, wie schon in den Monaten vor den Sommerferien. „Das wird auf Dauer nicht funktionieren“, seufzt Meltem. Weder ihre Schüler noch ihre Söhne könnten das lange aushalten, Präsenzunterricht sei untersetzbar.
Sind die Corona-Fallzahlen geschönt?
Bildungsminister Ziya Selçuk hingegen lobt den Fernunterricht, den die Türkei schon im März schnell auf die Beine stellte – erst mit Fernsehprogrammen, jetzt auch durch das staatliche Online-Portal EBA. Fernunterricht sei derzeit alternativlos. „Gesundheit geht vor allem“, betonte der Minister am Montag in einem Interview mit der Zeitung Hürriyet. „Ohne Gesundheit ist Bildung unmöglich.“ Eltern sollten unbesorgt sein, es würde alles getan, damit die Kinder gesund bleiben.
Damit wählt die Türkei einen anderen Weg als die meisten europäischen Länder, die in den letzten Wochen ihre Schulen wieder öffneten. Das ist ungewöhnlich, denn die Türkei hat zumindest offiziell weitaus bessere Corona-Fallzahlen als viele andere Länder der Welt.1743 neue Fälle waren es gestern. Doch die Ärztekammer warnt seit Wochen, dass die Fallzahlen geschönt seien. Ihre eigenen Zählungen seien weit höher, die Krankenhäuser vieler Orte seien schon jetzt überlastet. Sollte das stimmen, könnte das die strikten Maßnahmen in der Bildungspolitik erklären.
Fernunterricht als Antwort der Regierung
Es passt auch zum bisherigen Corona-Kurs der Regierung: So gab es im Frühjahr eine zweimonatige Ausgangssperre für unter 18-jährige und über 65-jährige. Der Gedanke dahinter: Wenn Kinder und Jugendliche zuhause bleiben, schadet das der Wirtschaft nicht. Und die steckte ja schon vor Corona in einer massiven Krise. Mit der Pandemie hat sich diese Krise enorm verstärkt, einen erneuten Lockdown will Ankara mit allen Mitteln verhindern. Nun scheint der Fernunterricht der einzig verbliebenen Joker in der Hand der Regierung. Doch langfristig dürfte der Preis dafür enorm hoch sein.
Denn der Fernunterricht verschärfe die ohnehin gravierende Ungleichheit im türkischen Bildungswesen, betonte vergangene Woche Kemal Kilicdaroglu, Chef der republikanischen Volkspartei CHP, Schwesterpartei der SPD. Von den 18 Millionen Schüler*innen im Land hätten über drei Millionen nicht einmal einen Internetanschluss zuhause, bei 750.000 gäbe es nicht einmal einen Fernseher, erklärte der Oppositionsführer. Von einem eigenen Laptop, Schreibtisch, gar einem eigenen Zimmer ganz zu schweigen. In vielen Familien müssen sich mehrere Kinder ein internetfähiges Handy teilen, können so nur an einem Bruchteil der Schulstunden teilnehmen. CHP-Führer Kilicdaroglu plädiert dafür, diesen Familien kostenloses Internet und Tablets bereitzustellen. Immerhin errichtete das Bildungsministerium in über 8700 Schulen des Landes jetzt Fernunterrichtszentren, wo die Kinder Zugang zu Internet und Computern bekommen. Ob das sicherer ist als Präsenzunterricht, bleibt dahingestellt.
Wer kann, flüchtet in Privatschulen
„Schon jetzt wählen sich nur 15 Prozent der Schüler in den Onlineunterricht ein“ sagt Baris Uloacak von der Bildunsgewerkschaft Egitim-Sen. Das fand eine jüngste Studie seiner Gewerkschaft heraus. Was das vor allem für die Bildung von Mädchen in ländlichen, ultrakonservativen Gegenden bedeuten könnte, mag man sich kaum vorstellen.
Die massive Ungleichheit des türkischen Bildungswesens manifestiert sich auch an dem Trend, dass gutsituierte Familien ihre Kinder vermehrt auf Privatschulen schicken. Über 13.000 Privatschulen gibt es in der Türkei – in Deutschland sind es weniger als die Hälfte. Die überfüllten Klassen der staatlichen Schulen, abnehmende Unterrichtsqualität und die Bestrebungen Erdogans, mit reichlich Islamunterricht eine „religiöse Jugend heranzuziehen“, treibt viele Familien seit Jahren zu Privatzuschulen. Auch wenn die guten von ihnen horrende Preise verlangen.
60 Schüler*innen pro Klasse in staatlichen Schulen
In der Pandemie haben diese Privatschulen den Vorteil, mit kleinen Klassen, vielen Lehrern, umfangreichen Hygienekonzepten und kostenlosen Tablets mehr Bildung bereitzustellen als die staatlichen Schulen. „Für die staatlichen Schulen, wo es in gehobenen Stadtteilen 20 Kinder pro Klasse, in manchen ärmlichen Gegenden aber 50 bis 60 Schüler pro Klasse gibt, ist der Fernunterricht in der Pandemie leider alternativlos“, klagt Bildungsgewerkschaftler Uloacak. „Seit Jahren wird in diesem Land an Bildung gespart. Das bekommen wir jetzt besonders stark zu spüren.“
Uloacak sorgt sich, dass die Kinder langfristig akademisch weit zurückfallen, mit psychologischen Traumata zu kämpfen haben. Diese Gefahr besteht weltweit. In der Türkei jedoch gab es in den letzten Monaten nicht einmal eine offene Debatte darüber, welchen Preis die Kinder in der Pandemie zahlen sollten oder nicht, welche Schul-Maßnahmen gerechtfertigt sind und welche nicht. Ankara ordnet an – und die Familien müssen sich fügen.