Vergessene Sozialdemokrat*innen

Julius Motteler: der erste Wahlkampfmanager der Sozialdemokratie

Lothar Pollähne19. Juni 2023
Die sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten aus Sachsen im Jahr 1903 – zweite Reihe ganz links Julius Motteler
Die sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten aus Sachsen im Jahr 1903 – zweite Reihe ganz links Julius Motteler
Er sorgt nicht nur dafür, dass August Bebel 1967 erstmals in den Norddeutschen Reichstag gewählt wird. Er schafft es auch, dass die SPD Bismarcks Sozialistengesetz organisatorisch überlebt: Julius Motteler, ein Sozialdemokrat der ersten Stunde

Im Spätsommer des Jahres 1866 ändert sich die politische Landschaft in Deutschland grundlegend. Nach dem „Deutschen Krieg“ etabliert Preußen den „Norddeutschen Bund“, lässt eine Verfassungsvorlage ausarbeiten und schreibt Wahlen zum „Norddeutschen Reichstag“ für den 12. Februar 1867 aus. Zum ersten Mal treten auch Kandidat*innen aus den deutschen Arbeitervereinen an und reisen, vor allem in den aussichtsreichen sächsischen Wahlkreisen, von Ort zu Ort, um sich und ihre Ideen „unters Volk“ zu bringen. Eine „Agitations- und Organisationsarbeit, die jedem von uns schwere Opfer auferlegte“, wie August Bebel in seinen Erinnerungen schreibt.

Für die Kandidaten ist es selbstverständlich, bei Genossen zu wohnen, was mitunter zu erstaunlichen Begebenheiten führt, wie sich Bebel erinnert: „Als ich früh am Morgen durch die Sonne, deren Strahlen durch die Dachluke mir ins Gesicht fielen, geweckt wurde, entdeckte ich, dass ich in einem Quantum gelber Garne und Mottelers schwarzlockiger Kopf in einem Haufen purpurroter Garne lagerte, ein Anblick, der mich dermaßen zum Lachen reizte, dass Motteler erwachte und verwundert fragte, was los sei!“ August Bebel gewinnt den Wahlkreis Glauchau-Meerane und zieht als erster „Marxist“ weltweit in ein Parlament ein. Zu verdanken hat er dies seinem eigenen rhetorischen Geschick und dem organisatorischen Geschick seines Freundes Julius Motteler, der durchaus als erster sozialdemokratischer „Wahlkampfmanager“ bezeichnet werden kann.

Julius Motteler – kein Sohn der Arbeiterklasse

Im Gegensatz zu August Bebel ist Julius Motteler kein Kind aus der Arbeiterklasse. Geboren wird er am 18. Juni 1838 als Sohn einer gut situierten Gastwirtsfamilie in Esslingen am Neckar. Dort besucht Julius ab 1845 das „Pädagogium“, ein Bildungsinstitut, das junge Menschen auf den Lehrerberuf vorbereitet. Der Vater stirbt bereits 1848. 1852 bricht Julius Motteler seine schulische Ausbildung ab und beginnt eine Lehre in einer Weberei. In Augsburg findet der ausgebildete Tuchmacher und Kaufmann Julius Motteler 1856 seine erste Anstellung als Werkleiter und Buchhalter. 1859 zieht es ihn in die Stadt, in der er zum politischen Menschen heranreift — das sächsische Städtchen Crimmitschau. In einer Spinnerei kann er seine organisatorischen Fähigkeiten als Buchhalter und Disponent entfalten.

1863 beteiligt sich Julius Motteler an der Gründung des „Arbeiterbildungsvereins“ in Crimmitschau und beeinflusst dessen Hinwendung zu sozialistischen Ideen. Im selben Jahr lernt Motteler auf dem Stiftungsfest des „Gewerblichen Bildungsvereins“ in Leipzig August Bebel kennen, einen weiteren Aktivisten der Arbeiterbildungsbewegung. Beide gründen gemeinsam mit Wilhelm Liebknecht 1866 die „Sächsische Volkspartei“, die sich an den von Karl Marx entwickelten programmatischen Ideen der „Internationalen Arbeiter-Assoziation“ orientiert.

Mit Bebel und Liebknecht Gründer der SDAP

Mottelers politische Aktivitäten führen dazu, dass er seine Anstellung in der Spinnerei verliert. Mit anderen Arbeitern, die ebenfalls aus politischen Gründen ihre Stellung verloren haben, gründet Motteler in Crimmitschau 1867 eine „Spinn- und Webgenossenschaft“, die durchaus erfolgreich ist. Die Kündigung der Kredite im Zuge des Krieges gegen Frankreich führt zur Auflösung der Genossenschaft. Julius Motteler haftet mit seinem Privatvermögen, bleibt aber der Genossenschaftsidee verbunden, die er politisch weiterentwickelt. 1869 wird Motteler in Leipzig Mitgründer und erster Leiter der „Internationalen Genossenschaft der Manufaktur-, Fabrik- und Handarbeiter beiderlei Geschlechts“, die als eine der Keimzellen der deutschen Gewerkschaftsbewegung gilt.

Gemeinsam mit August Bebel und Wilhelm Liebknecht ist Julius Motteler am 16. August 1869 maßgeblich an der Gründung der „Sozialdemokratischen Arbeiter-Partei“ (SDAP) in Eisenach beteiligt. Noch im selben Jahr gründet er eine Ortsgruppe der Partei in Crimmitschau, die alsbald Erfolge verzeichnen kann. Zur Erleichterung der agitatorischen Arbeit der Partei baut Julius Motteler eine Genossenschaftsdruckerei ein, in der ab 1870 der „Crimmitschauer Bürger- und Bauernfreund“ gedruckt wird — die erste regionale sozialdemokratische Tageszeitung in deutschen Landen.

Zwischen Reichstag und Exil

Im Januar 1874 wird Julius Motteler im Wahlkreis „Zwickau Werdau, Glauchau Crimmitschau“ für die SDAP in den Reichstag gewählt. Vehement streitet Motteler für die Abschaffung der Kinderarbeit und die Begrenzung der Arbeitszeiten für Frauen und Jugendliche. Noch im selben Jahr beruft ihn die SDAP zum Leiter der parteieigenen Genossenschaftsdruckerei in Leipzig, in der ab 1876 der „Vorwärts“ gedruckt wird. Der Erlass der „Sozialistengesetze“ trifft Julius Motteler in Nymphenburg; dort saniert er gerade ein Zeitungsunternehmen im Auftrag der vereinigten „Sozialistischen Arbeiterpartei“ (SAP), die seit dem Eisenacher Parteitag von 1875 besteht.

Der Erlass der „Sozialistengesetze“ im Oktober 1878 trifft die Partei zunächst hart. Die einzige gesetzlich verbliebene strukturelle Gruppierung ist die Reichstagsfraktion, die Bismarck nicht verbieten kann. 1879 gründen einige Sozialdemokraten in der Schweiz die Exil-Zeitschrift „Der Sozialdemokrat“, dem Georg von Vollmar als Chefredakteur vorsteht. August Bebel schätzt dieses Engagement, fürchtet aber dessen drohende Bedeutungslosigkeit, weil er den organisatorischen Fähigkeiten der Redaktion nicht traut.

„Der rote Feldpostmeister“

Auf mehrfaches Drängen Bebels entschließt sich Julius Motteler im November1879 mit seiner Frau Emilie nach Zürich zu gehen und als Verlagsgeschäftsführer den grenzüberschreitenden Vertrieb des Wochenblattes zu organisieren. Wesentliche Voraussetzung für das Gelingen dieser Aufgabe ist der Aufbau eines geheimen Vertriebsnetzes im Deutschen Reich mit regionalen „roten Feldpoststationen“. Bei den Genossen firmiert Julius Motteler bald als „Der rote Feldpostmeister“. Seine Arbeit trägt maßgeblich dazu bei, dass die regionalen Strukturen der Partei erhalten und ausgebaut werden können. Zum Schutz vor kaiserlichen Spitzeln etabliert Motteler in Zürich den Sicherheitsdienst „Schwarze Maske“ mit dem Erfolg, dass nur wenige Exemplare des „Sozialdemokrat“ abgefangen werden können.

1888 wird Julius Motteler auf Drängen des Deutschen Reichs aus der Schweiz ausgewiesen und geht mit einem Teil der Redaktion nach London, wo „Der Sozialdemokrat“ bis 1890 erscheint. Motteler wird Leiter des Exil-Büros der Partei und Verwalter des Parteiarchivs. In dieser Funktion  übernimmt er 1895 nach dem Tod von Friedrich Engels den Nachlass von Karl Marx und Friedrich Engels. Erst 1901, als Julius Motteler zum Leiter der „Leipziger Volkszeitung“ berufen wird, kehrt auch das Parteiarchiv nach Deutschland zurück und wird in Berlin angesiedelt.

Noch einmal kandidiert Julius Motteler im Wahlkreis Leipzig-Stadt für den Reichstag und wird 1903 gewählt. 1907 verzichtet der fast 70jährige auf eine weitere Kandidatur. „Der Rote Feldpostmeister“ und Cheforganisator der Partei stirbt am 29. September in Leipzig. Sein Grab auf dem städtischen Südfriedhof wird als Ehrengrab der Stadt Leipzig gepflegt.

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