
Die SPD ist gegenwärtig zweifellos in einer ernsten Krise. Auch ob das Konzept der Volkspartei noch zeitgemäß ist, wird aktuell kontrovers diskutiert. Die SPD muss mit sich und ihrer jüngeren Vergangenheit ins Reine kommen und eine kohärente Zukunftsperspektive entwickeln. Sie muss sich nicht neu erfinden, denn ihre historischen Leistungen bis in die Gegenwart sind unbestritten und es gibt Grund darauf stolz zu sein.
Aber vieles kam auf den Prüfstand: Ist es noch zeitgemäß Neumitglieder damit zu konfrontieren, dass sie vom ersten Tag an Wildfremde zu duzen haben? Ist die Anrede „Genossinnen und Genossenen“ noch zeitgemäß? Wie lässt sich die Binnenorientierung, die die Parteiorganisationen prägen, überwinden? Stimmen die Rekrutierungsverfahren noch und wie lassen sich diejenigen für das politische Engagement gewinnen, die nur über ein knappes Zeitbudget wegen Beruf oder Familie verfügen? Wie lässt sich erreichen, dass sich die ganze Vielfalt der Milieus abbildet, die eine gerechtere Gesellschaft wünschen? Wie lässt sich der politische Gestaltungsanspruch in Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung national und international realisieren?
Die SPD setzt sich für eine humanere Ordnung ein
Auf dem Prüfstand darf auch stehen, welcher Typ Partei die SPD sein will. Ihre Ursprünge liegen in Arbeitsbildungsvereinen des 19. Jahrhunderts. Ihre prägenden Gestalten wollten es nicht hinnehmen, dass die Arbeiterschaft des frühen Industriezeitalters zwar die Basis für den wachsenden Wohlstand war, aber ausgebeutet wurde (zwischen 1800-1860 verlängerte sich die durchschnittliche tägliche Arbeitszeit von acht auf 16 Stunden) und am sozialen und kulturellen Leben nur am Rande teilnahm. Die Schriftsetzer und Handwerksmeister, aber auch charismatische Figuren, wie Ferdinand Lassalle prägten die Sozialdemokratie in ihrer Frühzeit. Sie verstand sich dann zunehmend als Klassen-Partei und die programmatischen Texte schrieben dieses Selbstverständnis fest. In ihrer gewerkschaftlichen und politischen Praxis wurde sie aber zu einer Partei der sozialstaatlichen Bändigung des Kapitalismus und der Demokratie.
Dieses Spannungsverhältnis zwischen programmatischer Radikalität und sozialer, auch republikanischer, Praxis wurde erst mit dem Godesberger Programm von 1959 und dem neuen Selbstverständnis als linker Volkspartei aufgehoben. Als linke Volkspartei vertritt sie nicht Klassen-Interessen, sondern setzt sich für eine humanere, gerechtere politisch-soziale Ordnung ein.
Zeit für neues Grundsatzprogramm
Es wäre Zeit für ein neues Grundsatzprogramm, das so geschrieben ist, dass es ohne Soziologiestudium lesbar ist, wie es das Godesberger Programm war: programmatisch, kompakt, allgemeinverständlich. Dieses Programm sollte den Anspruch einer an sozialen und humanen Werten orientierten Volkspartei bekräftigen und unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts neu fassen. Ein Rückfall in die Klassen-Partei oder gar eine Schrumpfung zur bloßen Themen- oder Klientel-Partei jedoch ein Irrweg. Eine Sozialdemokratie, die ihre Gemeinwohlorientierung aufgibt, würde ihre Wertfundamente gefährden.