
Nach dem Scheitern der Sondierungsgespräche für eine Jamaika-Koalition wird in den Medien Kritik an Christian Lindner und Angela Merkel laut. Die Pressestimmen im Überblick:
Markus Decker, Berliner Zeitung
„Die FDP zieht kaltschnäuzig die Reißleine. Daraus folgt ein immenser Schaden für die Demokratie. Verantwortungslosigkeit ist die Ursache. Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner spekuliert offenkundig auf Neuwahlen und dabei auf zusätzliche Stimmen im eher populistischen Segment. Sollten die Wähler abermals zu den Urnen gerufen werden, dann sollten sie sich daran erinnern, wer diese Krise, die sich zu einer Staatskrise auswachsen kann, verursacht hat.“
Jasper von Altenbockum, Frankfurter Allgemeine Zeitung
„Es ist besser, ein Regierungsbündnis scheitert, bevor es begonnen hat, als dass es sich zerstritten durch die Wahlperiode schleppt. Die Begründung der FDP für den Abbruch – „Lieber nicht regieren, als falsch zu regieren“ – ist deshalb gut gewählt. Nicht von ungefähr ist es ein Motto, mit dem Angela Merkel nicht viel anfangen kann. Dass auch die Grünen nun Zeter und Mordio schreien zeigt, wo die Linien dieser Sondierung verliefen und wohl auch in einer Koalition verlaufen wären.“
Thomas Sigmund, Handelsblatt
„Union, FDP und Grüne müssten sich alle nach dem Abbruch der Gespräche an die eigene Nase fassen. Alle Parteien haben nicht erkannt, welche Chance in dieser Konstellation gesteckt hätte, Deutschland einen Modernisierungsschub zu geben. Die parteitaktischen Erwägungen wogen aber schwerer als die Verantwortung für das Land. Für Deutschland brechen unruhige Zeiten an.“
Philipp Wittrock, Spiegel Online
„Keiner der Beteiligten hat erkennen lassen, dass er Jamaika wirklich will. Und das in einer Zeit, in der eine Regierung finanziell aus dem Vollen schöpfen, Projekte entwickeln und sich Reformen vornehmen könnte. Die CDU-Vorsitzende aber hat lange einfach alles laufen lassen, bis die Lage am Ende völlig verfahren war. Keine Idee, keine Führung. Die oft geprobte Methode Merkel funktionierte nicht.“
Stefan Reinecke, TAZ
„Die FDP hat Jamaika nicht zufällig ruiniert, sondern mit strategischer Absicht. Lindner hat die Verhandlungen beendet – nicht weil diese komplett festgefahren waren, sondern weil den Liberalen das Schlimmste drohte: das Gelingen. Die Chuzpe, mit der die FDP diese Verhandlungen hat scheitern lassen, ist bemerkenswert.“
Kerstin Münstermann, Der Westen
„Die große Verliererin des Abbruchs heißt Angela Merkel. Mit der Mischung aus guter Zuhörerin und knallharter Verhandlerin hat die Kanzlerin es bisher immer geschafft, sich durchzusetzen. Weltweit genießt sie deshalb hohes Ansehen, hat oft einen Vertrauensvorschuss. Der ist nun verbraucht.“
Peter Frey, ZDF
„Politisch bewegt sich Deutschland jetzt auf dünnem Eis. Minderheitenregierung, wechselnde Mehrheiten, Neuwahlen - zum Stabilitätsbedürfnis der meisten Bürger passt es nicht. Deutschland ist politisch instabil, in einem Moment, in dem Europa auf Deutschland wartet. Viel war während der Sondierung von Verantwortung die Rede. Genau am Mut zur Verantwortung fehlte es in der vergangenen Nacht.“
Peter Rásonyi, Neue Züricher Zeitung (Schweiz)
„Am meisten dürften die Ereignisse der Bundeskanzlerin Angela Merkel zu denken geben. Der Einzug der Alternative für Deutschland in den Bundestag und das einmalig schwache Abschneiden der Volksparteien CDU/CSU und SPD an der Bundestagswahl haben die Bundespolitik vor ganz neue Probleme gestellt. Diese konnte selbst eine geniale und hemmungslose Machtbrokerin wie Angela Merkel nicht mehr lösen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Merkel die Magie der Macht abhanden gekommen ist.“
Christian Ultsch, Die Presse (Österreich)
„Die FDP pokert hoch. Denn es ist völlig unklar, ob der Wähler sie beim nächsten Urnengang für ein parteitaktisches Spiel bestraft oder für Prinzipientreue belohnt. Schon jetzt zeigen die Finger der Moralisten vorwurfsvoll auf die Liberalen. Doch die haben das gleiche Recht sich einer Koalition zu verweigern, wie die SPD, die sich schon am Wahlabend auf die Oppositionsrolle festgelegt hatte.“
Birgit Baumann, Der Standard (Österreich)
„Für Bundeskanzlerin Angela Merkel ist das Scheitern eine schwere Niederlage. Es zeigt ganz deutlich, dass sie nicht mehr die Kraft und Autorität hat, eine Regierung für Deutschland zu bilden. Während der Verhandlungen schon wirkte sie wie eine Moderatorin, aber nicht wie die gestaltende Kraft.“
Jenny Hill, BBC (Großbritannien)
„Dies ist für Nachkriegsdeutschland eine nie dagewesene Krise, die das Ende der Ära von Angela Merkel ankündigen könnte. Merkel muss um ihr politisches Überleben kämpfen.“