Großbritannien

Ein Jahr Brexit: Wie die Situation ist und was uns noch bevorsteht

Thomas Fröhlich31. Januar 2021
Leave Britannia: Innerhalb eines guten Jahres haben mehr als eine Millione Nicht-Brit*innen nach dem Brexit die Insel verlassen.
Leave Britannia: Innerhalb eines guten Jahres haben mehr als eine Millione Nicht-Brit*innen nach dem Brexit die Insel verlassen.
Am 31. Januar 2020 trat Großbritannien aus der EU aus. Der Ton ist seitdem deutlich nationalistischer geworden. Das bekommen vor allem Ausländer*innen zu spüren. Die Bundesregierung muss ein Zeichen der Völkerverständigung setzen.

Vor einem Jahr ist das Vereinigte Königreich (UK) endgültig aus der EU ausgetreten. Was folgte, war eine Übergangszeit bis zum 31. Dezember 2020, in der über die zukünftige Beziehung zwischen der EU und Großbritannien verhandelt wurde. Durch die Coronapandemie hat der Brexit an Öffentlichkeit verloren, allerdings nicht an politischer Bedeutung und Sprengkraft.

Was ist seit dem Brexit passiert?

Zunächst einmal muss unterstrichen werden, wie groß der Rückhalt in der britischen Gesellschaft für den Brexit ist, beziehungsweise wie groß das Verlangen war, diesen sich bald fünf Jahre hinziehenden Prozess endlich abzuschließen. Das hat zunächst einmal für hohe Zustimmungswerte für die Brexitcrew um Premierminister Boris Johnson gesorgt, eine Welle, auf der zu reiten sich auch Labour nicht zu schade war. Offiziell aufgrund von Corona – wahrscheinlich aber eher aus verhandlungstaktischen Gründen seitens der Briten – gab es von Frühjahr bis Herbst zunächst eine längere Verhandlungspause.

In der Zwischenzeit wurde innenpolitisch die nationalistische Schiene weiterverfolgt. So wurde beispielsweise die „umfassenden Krankenversicherung“ (Comprehensive Sickness Insurance) als Voraussetzung zur Einbürgerung stillschweigend eingeführt – ein politisch umstrittenes Konzept, das bereits der damalige Ministerpräsidentin Theresa May gehörigen Gegenwind verschafft hatte. Diesmal jedoch, abgelenkt durch Corona und im Brexit-induzierten Souveränitätstaumel, bleibt diese kleine, aber signifikante Änderung der Einbürgerungsformalitäten, die nicht wenigen EU-Bürger*innen den Weg zur Staatsbürgerschaft erschwert, eher unbemerkt.

Und auch obwohl der Nationale Gesundheitsdienst (NHS) in diesem Jahr besonders gelobt wurde, so ist es der politischen Elite offensichtlich entgangen, dass in England allein rund 67.000 EU-Bürger*innen im NHS arbeiten, was beinahe sechs Prozent des gesamten Personals entspricht. Die Verhandlungen über die zukünftigen Beziehungen wurden dann in der Vorweihnachtszeit hektisch wieder aufgegriffen, um in einem minimalen und unvollständigen Weihnachtskompromiss zu enden, der zwar einen Chaosbrexit verhindert hat, aber viele Bereiche ungeklärt lässt. Eine gute Übersicht stellt das „Institute for Government“, ein britischer Think Tank, bereit. Es wird also weiterverhandelt.

Wie ist die Situation im Moment?

Auch wenn ein harter Brexit für Beobachter*innen britischer Politik bereits absehbar war, ist es doch erschreckend, wie lange es gedauert hat, sich auf einen Minimalkompromiss zu einigen. Dass das eine Verhandlungstaktik der britischen Regierung darstellt, die auf das verantwortungsbewusste Handeln der EU spekuliert, ist ebenso klar. Und mit der hinsichtlich des Brexits weitgehend unkritischen Presse kann Boris Johnson auf öffentlichkeitswirksame Schützenhilfe zählen, die ihm seinen Rückhalt in der Bevölkerung sichert.

Auch wenn die befürchteten Versorgungsengpässe bislang ausgeblieben sind, ist doch eine Verschiebung des Produktangebots zu beobachten. In den Supermärkten wird vermehrt auf „Britisch“ gesetzt, egal ob es sich tatsächlich um ein britisches Produkt oder lediglich ein Verpackungsdesign handelt. Es ist nicht zu erwarten, dass sich diese nationalistischen Anzeichen abmildern, vor allem auch, da Briten nach dem Ausstieg aus dem Erasmus-Programm zukünftig weniger Kontakt mit Europäer*innen haben werden.

Nicht-Brit*innen verlassen das Land

Und immer mehr Europäer*innen verlassen die Insel. Laut einer Studies des Exzellenzzentrums für ökonomische Statistik (Economic Statistics Centre of Excellence (ESCoE)), sind zwischen Sommer 2019 und Herbst 2020 rund 1,3 Millionen Nicht-Brit*innen ausgewandert, davon allein 700.000 aus London. Zusätzlich wurde zum Jahreswechsel die Liste der für freiwillige Ausreisehilfen berechtigten Länder ausgeweitert. Wenn man nun dauerhaft zurück in die EU zieht, wird dies von der britischen Regierung finanziell unterstützt. Ein deutlicheres Zeichen, dass man Menschen aus der EU als unerwünscht ansieht, ist kaum vorstellbar.

Es schmerzt zudem sehr, zuerst seiner Bürgerrechte beraubt zu werden, wenn man beispielsweise nicht mehr in Kommunalwahlen wählen darf, und dann sogar von vermeintlich Verbündeten verlassen zu werden. Besonders bedrückend war die Entscheidung von Labour-Chef Keir Starmer, dem Johnson-Deal im Parlament ohne Not zuzustimmen und Fraktionsdisziplin einzufordern. Ein letztes Zeichen der Hoffnung ist die Labour-Abgeordnete Bell Ribeiro-Addy, die als einzige in ihrer Fraktion (abgesehen von wenigen Enthaltungen) den Anstand hatte, gegen den faulen Kompromiss zu stimmen.

Was steht uns noch bevor?

Die Grenzschließungen seitens der EU gegenüber Großbritannien nach Weihnachten, die Herabstufung des EU-Botschafters auf die Ebene eines Repräsentanten einer internationalen Organisation und die Ereignisse im Impfstreit der vergangenen 24 Stunden geben einen Vorgeschmack, worauf wir uns einstellen müssen. Sobald die Coronakrise eingedämmt ist, wird der Brexit wieder in den Vordergrund rücken, vor allem, wenn Verträge geschlossen werden müssen, die die materiellen Interessen Großbritanniens betreffen, wie die Finanzmarktregulierung und Fragen zum Status von Nordirland.

In der Zwischenzeit wird die nationalistische Rhetorik verschärft, einen ersten Vorgeschmack gab es am Freitag als die schlecht kommunizierten Maßnahmen der EU zu einem „rally around the flag effect“, also einer nationalen Einheit gegen die vermeintlichen EU-Maßnahmen, geführt haben.

Umso bedeutender erscheinen die bevorstehenden Wahlen in Deutschland. In dieser Situation gilt es Ruhe zu bewahren und eine wertegeleitete Außen- und Europapolitik zu verfolgen. Es ist offensichtlich, dass keiner der möglichen konservativen Kanzlerkandidaten die notwendige Charakterstärke hat, sich in solchen Situationen besonnen zu verhalten.

Was ist für die Zukunft zu beachten?

Es ist wichtig zu verstehen, dass die Regierung um Boris Johnson nicht zögert, sehr hohe Risiken einzugehen, die dem ökonomisch rational denkenden und seinen Mitbürger:innen gegenüber verantwortungsbewussten Menschen verrückt erscheinen können. Doch diese Risiken sind Teil einer Strategie.

Denn diese Regierung hat beinahe nichts zu verlieren. Das Ziel ist, Großbritannien größtmögliche Handlungsfreiheit zu geben und das zunächst mit Bezug auf Innenpolitik und Deregulierung. Wenn Verhandlungen mit der EU erfolgreich zu Ende gebracht werden, so ist das als Sieg zu verbuchen, sollten sie scheitern, kann ein den Brexit rechtfertigendes Bild der EU gezeichnet und weiter dereguliert, also ausländisches Kapital angelockt werden.

Die Konservativen regieren mit einer sehr soliden Mehrheit, was vorgezogene Neuwahlen äußerst unwahrscheinlich macht. Und momentan kommt weder von der Opposition noch aus den Medien angemessener Gegenwind, der die Arbeit der Regierung kritisch hinterfragt.

Forderungen an die Bundesregierung

Die oberste Aufgabe der Bundesregierung ist die Sicherstellung der Rechte Deutscher und Europäer*innen, zu Hause und im Ausland. Insofern kann und muss die Bundesregierung unabhängig von Arbeit und Kompetenzen der EU im Sinne der in Großbritannien lebenden Deutschen aktiv werden. Hier ist an erster Stelle die Ermöglichung der Annahme der britischen Staatsangehörigkeit mit Beibehaltung der deutschen ohne die Notwendigkeit einer Erlaubnis durch die Bundesregierung.

Des Weiteren muss dafür gesorgt werden, dass Deutschen, die aus Großbritannien heimkehren, angemessene Sozialleistungen zugestanden werden und nicht unmittelbar auf die Grundsicherung zurückfallen. Zudem muss ein Zeichen für die Völkerverständigung gesetzt werden. Austauschprogramme müssen verstärkt gefördert werden, damit nach dem Ende der Coronakrise mit zwischenmenschlichen Kontakten ein Gegenpunkt zu nationalistischer Brexitpropaganda gesetzt werden kann.

weiterführender Artikel

Kommentare

so, so

der Ton ist deutlich nationalistischer geworden. Das meinen Sie , ist eine Nachricht wert? Armselig, denn natürlich ist der Ton auf nationaler Ebene ein anderer als auch multinationaler. Das versteht sich von selbst.
Sie wollen GB diskreditieren, und das auf eine so billige Art und Weise. Schämen Sie sich.

?

Wofür genau sollten wir uns schämen? Dass wir einen Artikel zum ersten Jahrestag des Brexit veröffentlicht haben?

nein, dafüer dass Sie

so undifferenziert Stimmung machen, á la "Wright or wrong, my EU" , gerade auch noch zu einem Zeitpunkt , an dem UvdL ihre Inkompetenz mal wieder herausragend unter beweis gestellt hat