175. Geburtstag

Ignaz Auer: „der Einzigartige“

Detlef Lehnert19. April 2021
Tod mit nur 61 Jahren: Der Grab von Ignaz Auer ist Teil der Gedenkstätte der Sozialisten auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde in Berlin.
Tod mit nur 61 Jahren: Der Grab von Ignaz Auer ist Teil der Gedenkstätte der Sozialisten auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde in Berlin.
Für Rosa Luxemburg war er „ein echter Sohn des Volkes“. In schwierigen Zeiten hielt Ignaz Auer die deutsche Sozialdemokratie zusammen und war auch international hoch geachtet. Vor 175 Jahren wurde er geboren.

„Auer, der Einzigartige“ nannte ihn Eduard Bernstein in seinem Nachruf für die „Sozialistischen Monatshefte“, als der langjährige Zentralsekretär des SPD-Vorstands am 10. April 1907 kurz vor dem am 19. April anstehenden 61. Geburtstag verstorben war. Ignaz Auer hatte als bayerischer Hirtenjunge und dann Sattlergeselle wirkliches Elend kennengelernt, das ihn trotz seiner hünenhaften Gestalt lebenslang an Rheuma leidend zeichnete. Der „Revisionist“ Bernstein zitierte in seinem Nachruf den ihm von Auer 1899 brieflich erteilten Ratschlag: „Mein lieber Ede, was Du verlangst, so etwas beschließt man nicht, so etwas sagt man nicht, so etwas tut man. Unsere ganze Tätigkeit – sogar unter dem Schandgesetz – war die Tätigkeit einer sozialdemokratischen Reformpartei. Eine Partei, die mit den Massen rechnet, kann auch gar nichts anderes sein.“

Eine Titelseite des „Vorwärts“ zum Gedenken

Auer hatte als Hamburger Parteisekretär der „Eisenacher“ Sozialdemokraten die Vereinigung mit den „Lassalleanern“ 1875 vorbereitet und auch künftig seine Aufgabe darin gesehen, die Partei zusammenzuhalten. Auf dem Lübecker Parteitag 1901 wünschte er sich für seinen späteren Grabstein: „Auers Bemühen und Bestreben ist es gewesen, Gegensätze, die in der Arbeiterbewegung sich geltend machten, auszugleichen, sie zu überbrücken“. Das galt umso mehr zuvor unter dem Sozialistengesetz, diesem „Schandgesetz“, das Auer für neun Monate ins Gefängnis und Bernstein für zwei Jahrzehnte ins erst Schweizer und dann Londoner Exil getrieben hatte. Aber gerade die Verfolgung hatte einen festeren sozialdemokratischen Milieukern herauskristallisiert. Über konkrete gewerkschaftliche und sozialpolitische Forderungen hinaus wurde eine umfassende Demokratisierung anstelle des Obrigkeitsstaates und eine sozialistische Wirtschaftsordnung anstelle des Hochkapitalismus erstrebt.

Der „Vorwärts“ gedachte des verstorbenen Parteisekretärs am Folgetag mit der kompletten Titelseite. „Sein Witz schlug nicht Wunden – er entwaffnete nicht selten den Verspotteten, indem er ihn selbst zum Lachen brachte“, wurde dort Auers Wesensbild gezeichnet. „Er war der geborene Organisator“, eine „Arbeit, die außen wenig in die Erscheinung tritt, die aber von nicht minderer Bedeutung ist, als die des Parlamentariers und Redners. Aber auch als solcher hat Ignaz Auer noch Vieles und Hervorragendes geleistet.“ Auf der zweiten Seite wurde daran erinnert, dass Auer 1889 „in London ein ca. 300 Seiten starkes Buch: ‚Nach zehn Jahren‘. Material und Glossen zur Geschichte des Sozialistengesetzes“ anonym herausgebracht hatte. Dort formulierte er die für eine bemerkenswerte Identitätssicherheit der klassischen Sozialdemokratie charakteristisch gewordene, erst nach dem „Nein“ zu Hitlers Ermächtigungsgesetz von 1933 erschütterte Maxime: „Sie ist mit dem Sozialistengesetz fertig geworden, sie wird auch ferner mit ihren Gegnern fertig werden und kämpfen, bis sie ihr Ziel erreicht hat.“

„Der beste Typus des deutschen Proletariers“

Auf der stark besuchten Beerdigungsfeier, die im „Vorwärts“ (16.4.1907) ausführlich dokumentiert wurde, ergriff nicht zufällig der österreichische Parteiführer Victor Adler das Wort, der gleich Auer – und die Rolle von August Bebel als öffentliche Figur mit verkörpernd – als Personifikation der bis 1889 mühsam errungenen Parteieinheit galt: „Er war nach unserem Empfinden der beste Typus des deutschen Proletariers mit all seinen Vorzügen, mit seinen großen Anlagen, seiner großen Begabung und seiner ungeheuren Fähigkeit, die Dinge nicht nur zu übersehen, sondern auch handelnd in sie einzugreifen und – sich zu opfern. Wir Österreicher insbesondere haben etwas Verwandtes in ihm gefühlt, … etwas Süddeutsches.“

Die Internationalität damaligen sozialdemokratischen Wirkens trat zutage, als danach Rosa Luxemburg als deutsche Staatsbürgerin und frisch berufene Ökonomiedozentin an der SPD-Parteischule in Berlin wegen ihrer Herkunft aus dem russischen Teil Polens „im Namen der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei“ sprechen konnte; auch ihr erschien Auer als „ein echter Sohn des Volkes, ein einfacher Proletarier“, der sich „zu der Stellung eines Parteiführers großen Stils emporgearbeitet hat“; er sollte darin als ein Vorbild für andere gelten: „Erst wenn die russische Arbeitermasse solche Söhne wie Ignaz Auer aus ihrem Schoße gebären wird, dann wird das Wort unserer Lehrmeister von der Befreiung der Arbeiterklasse selbst auch in Rußland in Erfüllung gehen“.

Aber genau das blieb ein gravierender Unterschied: Schon in Österreich standen an der Spitze der Arbeiterbewegung Persönlichkeiten wie Victor Adler und nach ihm Karl Renner und Otto Bauer, allesamt promovierte Akademiker, in Russland traten Lenin und Trotzki besonders hervor, die Intellektuelle gleich Rosa Luxemburg, Karl Kautsky und Rudolf Hilferding waren, wie auch der 1914 ermordete französische Sozialistenführer Jean Jaurès. So stellten der rede- und schreibgewandte Drechsler Bebel und der Sattler Auer, der in diesen Tagen vor 175 Jahren in Dommelstadl bei Passau geboren wurde, durchaus eine Besonderheit dar.

Zweifel nach links und nach rechts

Zu Lebzeiten des Parteisekretärs hatte ein damals noch „linker“ Gesinnungsgenosse von Rosa Luxemburg, nämlich der unter dem Pseudonym „Parvus“ schreibende Alexander Helphand, in der Theoriezeitschrift „Die Neue Zeit“ (1901) einen bewusst theoriedistanzierten „Praktizismus“ von Auer erkennen wollen, der aber einen Überzeugungskern hatte: „Auer hat niemals eine andere Politik getrieben, als reine Arbeiterpolitik. Darin liegt seine große Stärke.“ Er sei zwar ein „Polemist von ciceronischer Beredsamkeit“, er habe aber „seine Zweifel nach links und seine Zweifel nach rechts“, und so bringe „ihn sein Skeptizismus merkwürdigerweise zu einer Art Fatalismus“.

Der Bremer Historiker Hans-Josef Steinberg hat den „Praktizismus“ von Auer für die eigentliche „Integrationsideologie“ der Vorkriegssozialdemokratie gehalten. Hingegen stimmten der „Zentrismus“ in der Theorie Kautskys und in der Parteiführung durch Bebel zum einen nicht immer überein, zum anderen erzeugten beide nicht selten heftige Kontroversen. Dann war es der gewitzte und trotz seiner geradewegs inszenierten Theoriendistanz durchaus belesene Ignaz Auer, der sozusagen „den Laden zusammenhalten“ musste.

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Kommentare

" der Einzigartige "

Das ist ein sehr schöner Ehrentitel!