Interview mit Jens Geier

„Die Idee der europäischen Solidarität sollte nicht vorzeitig abgeschrieben werden.“

Kai Doering15. Dezember 2020
SPD-Europaabgeordneter Jens Geier: Unsere gemeinsame Arbeit für ein starkes, faires und soziales Europa geht weiter.
SPD-Europaabgeordneter Jens Geier: Unsere gemeinsame Arbeit für ein starkes, faires und soziales Europa geht weiter.
2020 war ein schwieriges Jahr für die Europäische Union. Aus Sicht des Vorsitzenden der SPD-Abgeordneten im Europaparlament, Jens Geier, wurden aber die richtige Schlüsse aus der Corona-Krise gezogen. Sie könnten die EU nachhaltig stärken.

Die europäischen Staats- und Regierungschef*innen haben in der vergangenen Woche den EU-Haushalt und den Corona-Wiederaufbaufonds auf den Weg gebracht. Wie erleichtert sind Sie?

Sehr erleichtert, dass es gelungen ist und die Blockade der Regierungen aus Polen und Ungarn gebrochen werden konnte. Das ist ein Erfolg für alle, die für mehr Zusammenarbeit in Europa einstehen und eine Niederlage für Nationalisten. Ein kreditfinanziertes EU-Programm für den Wiederaufbau war im Frühjahr noch undenkbar. Zu der Zeit beschworen Unionspolitiker noch den Poltergeist der Eurobonds und die Mär der Schuldenhaftung. Diese haben wir zum Nutzen aller in Europa hinter uns lassen. Die EU-Institutionen zeigen, dass sie aus früheren Fehlern gelernt haben. Den Anteil der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in der deutschen Ratspräsidentschaft kann man daran nicht zu hoch schätzen.

Für andere Teile des Pakets haben wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten lange gekämpft, wie die neuen Eigenmitteln, einem der Schwerpunkte des Europäischen Parlaments. Vor sieben Jahren – bei den letzten Verhandlungen zum europäischen Gesamthaushalt – war das Thema bei den Staats- und Regierungschefs so dermaßen verbrannt, dass die EU-Mitgliedstaaten sich auf wenig mehr als auf eine Expertengruppe zu dem Thema eingelassen haben.

Warum sind eigene europäische Einahmen so wichtig?

Die EU gibt sich mit dem Plastik-Eigenmittel ab dem 1. Januar 2021 erstmals seit den 1990er-Jahren eine neue Einnahmequelle, jenseits der nationalen Überweisungen. Damit schaffen wir Anreize, den Anteil des nicht-recycleten Plastiks in Europa zu reduzieren. Gleichzeitig lassen sich mit den so generierten Einnahmen wichtige EU-Programme finanzieren – und durch weitere Eigenmittel wie die Digitalabgabe, die in den kommenden Jahren folgen.

Auch das Wiederaufbauprogramm enthält eine Neuheit: Anders als etwa in der Finanzkrise sollen hilfsbedürftige Regionen auch Unterstützung bekommen, die sie nicht zurückzahlen müssen und nicht nur Kredite. Wie wichtig ist das?

Es reicht, sich vorzustellen, diese Unterstützung gäbe es nicht: Die Krise trifft Deutschland in einem Moment, in dem wir mit gutem Gewissen umfangreiche Hilfsprogramme finanzieren können. Andere EU- Staaten sind in einer bedeutend schlechteren Lage. Sie sind von der Finanzkrise und der folgenden liberalkonservativen Kürzungspolitik noch immer angeschlagen. Diese Staaten haben nicht die Mittel wie Deutschland, die eigene Wirtschaft anzukurbeln. Bleiben sie aber zurück, würde das langfristig allen schaden, weil wir in Europa wirtschaftlich so eng zusammenarbeiten. Eine gesunde Wirtschaft in unseren Nachbarstaaten ist sehr viel wichtiger, als einige konservative Vordenker wahrnehmen wollen.

Deswegen ist gut, dass wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten uns durchgesetzt haben. Mit diesem Gesamthaushalt und dem Wiederaufbaufonds kann die EU den Bürgerinnen und Bürgern Auffangnetze knüpfen und diese Krise überwinden. Europa muss enger zusammenarbeiten, um sozial und wirtschaftlich stärker zu werden, dann werden auch unsere Vorstellung von Rechtsstaat und Demokratie dort attraktiver, wo heute mehr auf Nationalismus gesetzt wird.

Erstmals nehmen die EU-Staaten auch gemeinsam Schulden auf. Wie wird das die Europäische Union verändern?

Die Europäische Union kann durch gemeinsame Investitionen enger zusammenwachsen, das stärkt Europa. Viele Beobachterinnen und Beobachter haben es nicht für möglich gehalten, dass die EU zu diesem Integrationsschritt in der Lage wäre. Wir beweisen das Gegenteil. Das zeigt, dass die Idee der europäischen Solidarität nicht vorzeitig abgeschrieben werden sollte, auch wenn einige Staats- und Regierungschefs das gerne wollen – dabei denke ich nicht nur an Viktor Orbán, sondern etwa auch an den niederländischen Premierminister Mark Rutte.

Um die größtmögliche Wirkung zu erzielen, muss die Vergabe des Geldes auf die gemeinsam beschlossenen politischen Ziele ausgerichtet werden: Dabei geht es um den sozial-ökologischen Wandel und die weitere Digitalisierung. Zudem sollte die EU-Kommission kontrollieren, dass die Aufbaupläne der EU-Mitgliedstaaten den Zielen der europäischen Säule sozialer Rechte und den UN-Nachhaltigkeitszielen gegen Armut und für faire Arbeit und mehr Chancengleichheit entsprechen. Wir brauchen eine stärkere Sozialpolitik in Europa, damit die Menschen, die das tatsächlich benötigen, Verbesserungen am Monatsende bemerken.

Ungarn und Polen hatten sich lange dagegen gewehrt, dass die Auszahlung von EU-Geldern an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien gekoppelt wird. Erfüllt der Kompromiss beim Rechtsstaatsmechanismus Ihre Erwartungen?

Die EU hat sich nicht erpressen lassen. Der Mechanismus zum Schutz des Rechtsstaats kommt. Die EU muss Nationalkonservative wie Orbán und Kaczyński in die Schranken weisen, die Rechtsstaat und Demokratie zerrütten, sonst verliert die EU ihre Legitimität. Sie mussten letztlich klein beigeben, auch wenn sie die Gipfel-Einigung wie üblich zu Hause als Erfolg verkaufen. Ärgerlich ist, dass Orbán durch Selbstverpflichtungen der EU-Kommission etwas Zeit erkauft hat, um sich bis zu den nächsten Wahlen in Ungarn weiter die Taschen mit europäischem Geld voll zu machen. Doch er sollte sich seiner Sache nicht allzu sicher sein: Wir haben Mittel, der Kommission Beine zu machen und auch die angekündigte Prüfung des Rechtsstaatsschutzes durch den Europäischen Gerichtshofs könnte schneller erfolgen, als Orban lieb ist.

Der entscheidende Spieler ist die EU-Kommission. Sie muss den Mechanismus künftig entschlossen anwenden, aber sie muss es auch wollen! Wenn sie sich zu zaghaft verhält haben wir einen Werkzeugkoffer von Möglichkeiten, sie anzutreiben. Unser dickster Hammer ist das Entlastungsverfahren – die Androhung der Nichtentlastung des EU-Haushalts hat 1999 zum Rücktritt der EU-Kommission geführt. Wenn nötig, können wir diesen Hammer wieder schwingen.

Kein Thema des Gipfels der Staats- und Regierungschef*innen in der vergangenen Woche war der EU-Beitritt von Nordmazedonien, den nun überraschend Bulgarien blockiert. Sehen Sie da für das kommende Jahr eine Einigung?

Wir setzen darauf, dass so schnell wie möglich EU-Beitrittsgespräche mit Nordmazedonien und Albanien starten. Trotz der harten Arbeit der Ratspräsidentschaft und der EU-Institutionen hat es bisher keinen Durchbruch gegeben. Daran muss jetzt die portugiesische Ratspräsidentschaft weiter arbeiten. Albanien und Nordmazedonien haben weitgehende politische Zugeständnisse gemacht und Reformen angestoßen. Wenn die EU nun nicht Wort hält, stärkt das die nationalistischen und populistischen Kräfte in der Region. Auch hier geht es darum, nationalistische Stimmungsmache zu Gunsten einer europäischen Zusammenarbeit zurückzudrängen.

Die Mitte-Rechts Regierung des bulgarischen Ministerpräsidenten Bojko Borissows blockiert bisher die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen. Er projiziert seine innenpolitischen Probleme nach außen, ein bekanntes Vorgehen konservativer Regierungen unter Druck. Das ist völlig unakzeptabel und darf im 21. Jahrhundert in Europa kein Mittel der Politik mehr sein. Die Reformen und die Zusammenarbeit, die einem EU-Beitritt vorausgehen, sind für die Normalisierung der Beziehungen Nordmazedoniens zu seinen Nachbarn, nicht nur zu Bulgarien, auch etwa zu Griechenland, genau das Richtige. Die Wunden aus jahrelangen Konflikten müssen endlich heilen können.

Das Jahr 2020 war vor allem wegen Corona kein leichtes für die EU. Lässt sich nach den Entscheidungen vom vergangenen Donnerstag trotzdem sagen: Ende gut, alles gut?

Alles gut leider sicher nicht. Das Jahr 2020 war und ist wegen der Pandemie für den Großteil der Menschen in Europa hart und voller Verzicht, vor allem im sozialen Bereich. Viele haben durch Maßnahmen gegen das Virus drastische finanzielle Einbußen. Aber auf europäischer Ebene gibt es mehrere langfristig wirkende Erfolge gegen die Krise, auch dank der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, die ja die deutsche Ratspräsidentschaft bestimmt haben: etwa den Corona-Aufbaufonds, den größten EU-Gesamthaushalt aller Zeiten für mehr Zusammenarbeit, ein Instrument für den Rechtsstaatschutz in Europa sowie ein schärferes EU-Klimaziel für 2030. Unsere gemeinsame Arbeit für ein starkes, faires und soziales Europa geht weiter. Dafür gibt es noch viel zu viele Probleme zu lösen und Herausforderungen zu stemmen.

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Kommentare

Idee der europäischen Solidarität

"Die EU muss Nationalkonservative wie Orbán und Kaczyński in die Schranken weisen, die Rechtsstaat und Demokratie zerrütten, sonst verliert die EU ihre Legitimität."

Als in einem Dreiländer-Eck Aufgewachsener bin ich überzeugter Europäer und schätze die Zusammenarbeit vor allem mit den westlichen Ländern Frankreich und BeNeLux, den skandinavischen Ländern, den Südländern wie Italien, Spanien, Portugal und Griechenland; jedoch die übereilte Aufnahme der osteuropäischen Länder hat der EU nur Ärger eingebracht. Bereits Helmut Schmidt hat die übereilte Erweiterung der EU sowie auch die Beibehaltung der Einstimmigkeit kritisiert. Jetzt hat man mit den Erzreaktionären aus Ungarn und Polen den Ärger, der tatsächlich die Legitimität der EU schon ernsthaft beschädigt hat und mit Sicherheit noch weiter beschädigen wird.

Die EU ist m.E. auch eine

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ja, und die Erfahrungen lehren

dass mit dem Beitritt der weniger entwickelten Staaten deren obere Bildungsschicht das weite sucht, dh die Freizügigkeit nutzt, um das erworbene Wissen besser veräußern zu können, als dies im Heimatland möglich ist. Damit vergrößert sich der Abstand zu den hochentwickelten Staaten. Wir in Deutschand haben das Potential Bulgarien und Rumänien weitestgehend "abgesahnt". Mit den zukünftig beitretenden Staaten wird es nicht anders sein. Braindrain allen orten, selbst aus Deutschland verschwinden die Hochqualifizierten, und was nachrückt, schwächt die anderen Staaten, ein Teufelskreis bits hin in die Dritte Welt. Weiter so , EU, her mit weiteren Erfolgsmeldungen