
Wenn Samer H. erzählt, was ihn an seinem Leben in Deutschland stört, gestikuliert er mit den Händen und spricht immer schneller: „Ich will kein Geld vom Arbeitsamt. Ich brauche das nicht. Ich bin Ingenieur.“ Der 43-jährige Syrer spricht fließend Englisch, Französisch und Persisch. Er hat als Ingenieur in Riad, in Saudi-Arabien, gearbeitet. Im Internet findet man ein Foto von ihm. Darauf ist H. zu sehen, wie er ein ein helles, gestreiftes Hemd trägt und in die Kamera lächelt. Aufgenommen wurde das Foto im Dezember 2011, in jenem Jahr, in dem der Bürgerkrieg in Syrien begann.
Ein ähnliches Streifenmuster hat auch das hellrosa Hemd, das der Ingenieur an diesem Mittwochmorgen in Hamburg-Harburg trägt. Seit drei Monaten erscheint der Mann aus Aleppo hier an jedem Werktag um 10 Uhr. Hier trifft er auf 19 andere Männer und zwei Frauen. Sie kommen aus Syrien, Afghanistan, Iran und Eritrea. Alle sind Flüchtlinge, alle sind gut ausgebildet und haben in ihrem Heimatland als Bauingenieure, selbstständige Übersetzer oder IT-Ingenieure gearbeitet. Die Männer und Frauen nehmen am Programm „Early Intervention“ der Bundesagentur für Arbeit und des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) teil. Jeden Tag kommen sie für fünf Stunden in die Räume des Hamburger Kursträgers „Passage“ und lernen gemeinsam Deutsch. Der Sprachunterricht soll sie fit machen für den deutschen Arbeitsmarkt.
„Early Intervention“ heißt übersetzt Frühförderung. Die frühzeitige Integration von Asylbewerbern in den deutschen Arbeitsmarkt ist Ziel des Pilotprojektes, das Anfang des Jahres in sechs deutschen Städten gestartet ist. Die bisherigen 270 Teilnehmer sind Flüchtlinge, deren Asylantrag aufgrund der Situation in ihrem Heimatland wahrscheinlich positiv entschieden wird, die also eine gute Bleibeperspektive haben. Die Hoffnung, dass sie in absehbarer Zeit ein sicheres Leben in ihren Heimatländern führen können, ist äußerst gering.
Flucht vor Grausamkeit
Rund 25 000 syrische Flüchtlinge haben seit Beginn dieses Jahres einen Asylantrag in Deutschland gestellt. Im vorigen Jahr waren es zum gleichen Zeitpunkt rund 8500. Eine Verdreifachung, die dem Bürgerkrieg und der Grausamkeit der dschihadistischen Terrormiliz Islamischer Staat (IS) geschuldet ist. Aber nicht nur aus Syrien fliehen die Menschen, sondern auch aus Afghanistan, Irak und Somalia. Nach Angabe des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen sind mehr als 50 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht, mehr als jemals zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg.
Deutschland nimmt nur 0,4 Prozent der weltweiten Flüchtlinge auf – und liegt damit im EU-weiten Vergleich nach absoluten Zahlen sogar vorn. Dennoch sind die Kommunen überfordert. Die Asylunterkünfte in Sachsen sind zu 93 Prozent aus-, die in München völlig überlastet. In der bayerischen Landeshauptstadt mussten Asylbewerber in Zelten übernachten. Auch in Hamburg ist die Wohnsituation angespannt: Obwohl der Aufenthalt nur für maximal drei Monate vorgesehen ist, leben mehrere der Teilnehmer des Modellprojekts noch in Erstaufnahmestellen. So auch der 23-jährige Mahdi H. und der 27-jährige Sohaib A. Die jungen Männer aus Afghanistan und dem Nordirak sind seit etwa vier Monaten in Deutschland und nehmen beide an „Early Intervention“ teil. Sie müssen sich einen Container mit drei weiteren Männern teilen. „Dort ist es ständig laut, manche trinken zu viel, und es wird viel gestritten“, merkt A. kritisch an. Keine ideale Situation, um Deutsch zu lernen.
Inzwischen gibt es bei Bund und Ländern die Bereitschaft, Kommunen stärker bei der Versorgung von Flüchtlingen zu unterstützen. So hat das Land Nordrhein-Westfalen auf einer Flüchtlingskonferenz Ende Oktober zusätzliche Finanzhilfen in Höhe von 46 Millionen Euro bewilligt. Auch Bund und Länder verhandeln dazu. Zudem drängten die SPD-regierten Länder auf der Innenministerkonferenz vor zwei Wochen auf ein beschleunigtes Asylverfahren. Sie forderten für das BAMF eine Personalaufstockung um 350 Stellen. Weil die Zahl der Anträge so stark gestiegen ist, konnten mehr als 100 000 Asylverfahren noch nicht abgeschlossen werden.
Auch die Teilnehmer des Projekts wissen noch nicht alle, ob sie in Deutschland bleiben können. Manche haben bereits in Italien die EU betreten und müssen dann gemäß der EU-Verordnung Dublin II dorthin zurück. „Lieber gehe ich wieder nach Syrien, als zurück nach Italien“, sagt einer der Teilnehmer. Dort erhalten Flüchtlinge keine Sozialleistungen und keine Sprach- oder Integrationsangebote.
Integration durch Arbeit
Wie kann es gelingen, Menschen in dieser unsicheren Situation in eine fremde Gesellschaft zu integrieren? „Durch Arbeit“, sagt der Leiter der Hamburger Arbeitsagentur Sönke Fock. „Durch Arbeit“, sagt auch Aydan Özoguz, Integrationsbeauftragte der deutschen Bundesregierung und SPD-Vizevorsitzende. „Für die geflüchteten Frauen und Männer ist es nicht hilfreich, monatelang während der Verfahren untätig in ihren Unterkünften auszuharren. Sie müssen ihren Alltag sinnvoll gestalten können. Wenn man weiß, dass 60 bis 80 Prozent der Asylsuchenden in Deutschland dauerhaft bleiben, dann kann man mit der Integration nicht erst beginnen, wenn ein Aufenthaltstitel vorliegt”, sagt Özoguz.
Mit 600 Asylbewerbern monatlich rechnet die Stadt Hamburg für das laufende Jahr, im vergangenen Jahr kamen über 4 000 Menschen in die Hansestadt. Zugleich fehlen der Hamburger Wirtschaft zirka 37 000 Fachkräfte. Das Projekt „Early Intervention“ verknüpft das ökonomische mit dem humanitären Ziel und gibt den Flüchtlingen eine Perspektive. Zugleich bewegt es sich auf einem schwierigen Terrain. Da das Projekt erst angelaufen ist, werden viele Erfahrungen gerade erst gemacht. So gestaltet sich etwa die Suche nach geeigneten Praktika für die Projektteilnehmer, die diese im Rahmen des Deutschkurses absolvieren sollen, noch schwierig.
Eine Erkenntnis hat der Leiter der Hamburger Arbeitsagentur aber bereits in dem kurzen Projektzeitraum gewonnen: „Wir bekommen nicht Fachkräfte, wir bekommen nicht Lückenbüßer für Engpassberufe, sondern wir bekommen Menschen, die ein dramatisches Schicksal in ihren Heimatländern erlebt haben. Kein Mensch verlässt ohne Not seine Heimat. Deswegen ist es hier so wichtig, auf die Person zugeschnittene Angebote zu machen“, sagt Fock.
Was braucht der Markt?
Diese Einzelfallangebote macht Doris Mir Ghaffari. Die Arbeitsvermittlerin der Hamburger Bundesagentur für Arbeit bekommt jede Woche eine Liste all jener Flüchtlinge, die gerne am Projekt teilnehmen möchten. Diese lädt sie dann zu einem persönlichen Gespräch in die Hamburger Arbeitsagentur ein. „Häufig kommen die Menschen mit einer sehr großen Erwartungshaltung her“, erzählt Mir Ghaffari. „Sie wollen arbeiten, sie wollen sich hier wieder etwas aufbauen.“ Da müsse sie auch teilweise auf die Bremse treten und erst einmal erklären, welche Unterlagen nötig sind, und welche Berufe und Qualifikationen auf dem deutschen Arbeitsmarkt gebraucht werden.
Zwar soll die Vorrangprüfung auf Druck der SPD künftig für viele Berufsbilder entfallen. Bisher mussten Arbeitgeber, die Asylbewerber einstellen wollen, nachweisen, dass es keine geeigneten deutschen oder EU-Bewerber gibt. Dennoch gibt es für einige Berufe einfach keinen Bedarf. Mir Ghaffari wirbt dann für andere Jobs, in denen Mitarbeiter gesucht werden, etwa in der Pflege oder Gastronomie. Andere gut qualifizierte Flüchtlinge müssen ihre Qualifikation auffrischen oder um deutsche Standards erweitern.
Eine entscheidende Qualifikation jedoch bringen alle Teilnehmer des Kurses mit: den Willen, in Deutschland und auf dem deutschen Arbeitsmarkt anzukommen.