Chisinau / Bukarest - Liviu Beris, 83, Vorsitzender des Vereins jüdischer Holocaustopfer in Rumänien, ist ein kleiner Mann mit lächelnden, lebendigen Augen. Sein Büro liegt im Zentrum von
Bukarest, in einem alten Haus unweit des Jüdischen Theaters. Er sitzt hinter seinem Tisch und erzählt, während das Radio im Hintergrund klassische Musik spielt. Und er hat viel zu
erzählen:
Geboren in Herza, einem kleinen Schtetl im Norden der historischen Region Moldau, in dem vor dem Krieg 2.000 Juden und 2.000 Rumänen nebeneinander lebten. Im Frühjahr 1940 schien das
Leben "noch in Ordnung", wie Liviu Beris heute sagt. Der kleine Liviu war damals 12 Jahre alt, sprach daheim Jiddisch und Rumänisch, denn Herza lag im Königreich Rumänien, und wurde in der
Bäckerei seines Vaters groß. "Wir kauften Mehl vom Müller Kisslinger, dem einzigen Deutschen im Schtetl. Und wir hatten 20 Angestellte - alle Rumänen."
Doch im Juni 1940 war es vorbei mit der Ordnung, als eines Morgens die Panzer der Roten Armee durch die Hauptstraße von Herza rollten. In Folge des Hitler-Stalin-Paktes stellte der
sowjetische Diktator Rumänien ein 48-stündiges Ultimatum - und besetzte Bessarabien, die Bukowina und das Gebiet rund um Beris' Schtetl. "Kaum eine Woche verging, und unsere Bäckerei wurde im
Zuge der Kollektivierung beschlagnahmt", erzählt der alte Mann.
Im Frühjahr dann verbreitete sich das Gerücht, dass die "Kulaken und Spießer" bald nach Sibirien verschafft würden. Am 15. Juni 1941 bestellte Stalins Geheimdienst, das NKWD, eine erste
Gruppe von 39 mittelständischen Familien ein, die in Pferdewagen zum nächsten Bahnhof abtransportiert wurden.
Unternehmen "Barbarossa"
"Zum Glück waren wir für einen späteren Transport vorgesehen", sagt Liviu Beris und lächelt offenherzig. Denn der zweite Transport nach Sibirien blieb aus. Drei Wochen später marschierte
die Rumänische Armee in die Stadt ein und trieb die Sowjets zurück nach Osten. Das Unternehmen "Barbarossa" hatte am 22. Juni seinen Lauf genommen, der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt war
Makulatur. In Bukarest hatte unterdessen der faschistische Marschall Ion Antonescu die Macht übernommen - nicht zuletzt aufgrund der verlorenen Gebiete. Er befürwortete ein Bündnis mit Hitlers
Deutschland und versprach der Bevölkerung eine rasche Rückeroberung von "rumänischem Boden".
Vor dem Zweiten Weltkrieg betrachteten viele Bevölkerungsgruppen das Königreich Rumänien als ihre Heimat. "Die Provinzen Bessarabien und Bukowina glichen Flickenteppichen, wo sich Juden,
Rumänen, Polen, Ukrainer, Deutsche und Roma begegneten", beschreibt Historiker Lucian Boia die Ausgangslage. "Nach der Rückeroberung der Gebiete waren die rumänischen Faschisten allerdings
bestrebt, genau diese Pluralität auszulöschen. Die ursprüngliche Freude an der Befreiung von der sowjetischen Besatzung wurde für viele zum Grauen vor der nächsten Tragödie", resümiert Boia,
der an der Universität von Bukarest Ideengeschichte unterrichtet.
Wer ist hier Jude?
Liviu Beris erinnert sich an seine erste Begegnung mit den "Befreiern": "Ein Nachbar kam zu meinem Vater und teilte ihm mit, dass rumänische Truppen bei Kisslingers Mühle seien. Mein
Vater nahm meine Hand und sagte: 'Komm, Junge! Wir kommen ihnen entgegen. Wir sind der Deportation nach Sibirien entgangen!'. Und wir machten uns auf den Weg zur Mühle, zusammen mit zehn
weiteren Juden und 20 Rumänen aus dem Ort.
Doch, statt uns zu begrüßen, rief der rumänische Hauptmann: 'Wer ist hier Jude?'. Und wir, die 12, wurden von den Rumänen getrennt, und die Soldaten hielten auf uns zu mit ihren
Maschinenpistolen. Doch einer unserer rumänischen Nachbarn trat dazwischen, bekreuzigte sich mehrmals und rief: 'Was machen Sie, Herr Hauptmann? Das sind doch Leute, die zusammen mit uns
gelitten haben!'. Und der Hauptmann ließ uns tatsächlich gehen."
Deportation nach Osten
Nur zwei Tage später mussten die Juden Herzas in die Synagogen kommen. Die Ordnungspolizei, in Rumänien Gendarmerie genannt, kam mit Namenslisten, führte 100 Juden heraus und erschoss sie
ganz in der Nähe von Kisslingers Mühle. "Doch", so Liviu Beris, "wir standen wieder nicht auf der Liste". Er versinkt in Schweigen und blickt aus dem Fenster auf das Dach der Synagoge, bevor er
weiter erzählt: "Nach drei Wochen sammelten die Gendarmen alle Juden auf dem Hauptplatz des Schtetls. Die Front war jetzt schon weiter gerückt und die Deportation nach Osten konnte anfangen.
Kein einziger von uns ist in Herza geblieben. Wir haben die Deportation, die Zwangsarbeit, den Hunger und die Kälte überlebt", resümiert Liviu Beris seine Geschichte. Dann schweigt er erneut.
Nach dem Krieg kehrte der Mann aus Transnistrien nach Rumänien zurück. Er promovierte in Biologie und zog nach Bukarest, wo er bis heute lebt.
Trotz der ursprünglichen Beteuerungen von Marschall Antonescu ist die Rumänische Armee nicht am Dnjestr, an der ehemaligen Grenze zur Sowjetunion, stehen geblieben, sondern rückte immer
weiter vor, gemeinsam mit der Wehrmacht, bis nach Stalingrad. Als Geschenk für ihre Loyalität gewährte Hitler den rumänischen Behörden das Recht, nicht nur ihre früheren Provinzen Bessarabien
und Bukowina, sondern darüber hinaus auch einen Teil der historischen Ukraine zu verwalten und wirtschaftlich auszubeuten. Ion Antonescu ernannte einen rumänischen Gouverneur für das Gebiet
jenseits des Dnjestrs, das sogenannte Transnistrien, und nutzte es als sein Hinterland. Weit entfernt von den Augen der Öffentlichkeit wurden dort Juden, Roma und Oppositionelle in Lagern
interniert. So verfolgte die rumänische Regierung ihren Plan, große Teile des Landes ethnisch zu säubern.
Zwangsmarsch der Roma
Aglaia Arap empfängt in ihrem Vorgarten und kocht den Kaffee in einer kleinen Kupferkanne nach altem rumänischem Brauch. Die 75-jährige Frau trägt Kopftuch, ihre Kleidung erinnert an die
traditionelle Tracht der Roma. Araps Muttersprache ist Romanes, sie spricht aber auch Russisch und den rumänischen Dialekt der Moldauer. Als sie geboren wurde, lag Ursari, ihr kleines Dorf, in
Rumänien, in der Provinz Bessarabien. Dann teilte Ursari das Schicksal der ganzen Provinz: 1940 von den Sowjets besetzt, wurde es im Sommer 1941 von der Rumänischen Armee zurückerobert. Heute
liegt der vergessene Ort in der Republik Moldau, etwa 60 Kilometer von der Hauptstadt Chisinau entfernt.
Aglaia Araps Vater war Kupferschmied, doch der Familie mit vier Kindern drohte wie auch den anderen Dorfbewohnern ständig Hunger. So erzählt sie vom Werben der Rumänen: "Die Gendarmen
kamen ins Dorf und versprachen uns Häuser und Grundstücke in Transnistrien. Und wir unterzeichneten die Papiere", erinnert sich Arap mit Tränen in den Augen. "Mein Vater hat nur ein paar Sachen
in den Pferdewagen gepackt. 'Ihr werdet nicht viel brauchen', meinten die Gendarmen zu uns."
Mehrere Monate dauerte der Zwangsmarsch der Roma nach Transnistrien. Das Gefühl, der Willkür der Gendarmen ausgeliefert zu sein, war allgegenwärtig. "Eines Tages wurden einige von uns mit
Benzin übergossen und angezündet. Von 60 Familien kehrten nach mehr als zwei Jahren nur 20 zurück ins Dorf", erzählt Aglaia Arap. Als die Familie zurückkam, war ihr altes Haus nur noch eine
Ruine. Doch sie baute ein neues. Aglaia Arap arbeitete 40 Jahre als Putzfrau in der Dorfschule, wurde zehnmal Mutter und siebzehnmal Großmutter.
Holocaust in rumänischer Regie
Der Genozid an den Roma gehörte, genau wie die "Lösung der Judenfrage", zum sogenannten Masterplan der faschistischen Regierung in Bukarest. Die nationale Historiografie hat
jahrzehntelang versucht, dieses Kapitel der rumänischen Geschichte zu vertuschen. Erst 2003 wurde eine internationale Historikerkommission unter der Leitung von Elie Wiesel berufen. Kurz nach
Veröffentlichung des Kommissionsberichts erkannte Rumänien die Existenz eines Holocaust auf dem eigenen Gebiet offiziell an. "Unsere Anstrengungen gingen weit über bloße Lippenbekenntnisse oder
Loyalitätsgesten gegenüber dem deutschen Verbündeten hinaus", sagt Alexandru Florian, Direktor des 2005 gegründeten Holocaust-Instituts in Bukarest.
Die organisatorischen Kapazitäten, die Disziplin und die Durchsetzungskraft der rumänischen Planer blieben oft unter den Erwartungen der deutschen SS-Attachés, wie die Depeschen der
Botschaft an die Zentrale in Berlin belegen. Doch die Geschichtsforschung belegt zweifellos, dass es in Rumänien einen Holocaust gegeben hat. Einen Holocaust in eigener, manchmal chaotischer
und korrupter Regie, dessen Details bis heute wenig bekannt sind.