Allein in Tel Aviv gingen 300.000 Menschen auf die Straße, weitere versammelten sich in Jerusalem, Haifa und Afula. Unter ihnen Studenten, Alleinerziehende, Angestellte aber auch Ärzte,
Taxifahrer und Soldaten.
Begonnen hatten die Proteste mit einem Zeltlager von Studenten auf dem teuersten Fleckchen in Tel Aviv, dem Rothschild Boulevard - aus Ärger über die hohen Mietpreise. Mittlerweile hat sich
der Kreis der Protestler vergrößert. Und auch die Forderungen sind umfassender geworden. Sie beziehen sich über das Wohnungsproblem hinaus auch die Lebensmittelpreise, die Gesundheitsversorgung,
das Bildungssystem und die ungerechte Steuerverteilung. Denn Löhne und Renten in Israel sind niedrig, die Mieten und Lebensmittel jedoch teuer, die Krankenhäuser überfüllt.
Thema: Umverteilung
Vor allem die breite Mittelschicht ist betroffen. Während die Wirtschaft wächst und die Arbeitslosenquote so niedrig wie lange nicht mehr ist, hat die Zahl der Armen dramatisch zugenommen.
Der Reichtum Israels beschränkt sich auf eine kleine Gruppe der Bevölkerung, die breite Masse wird von hohen Steuern und niedrigen Löhnen belastet.
So rufen die Demonstranten nach einem stärkeren Staat, der fairer verteilt und die Initiatoren, überwiegende Studenten, konnten breitere Teile der Bevölkerung mobilisieren. Allerdings nur
hinter einer sehr vagen Protestformel, denn genaue Details könnten den Zusammenhalt des breiten Bündnisses sprengen.
Insgesamt ist jedoch neu, dass es bei den Demonstrationen nicht um die Sicherheit der Israelis geht, sondern um den Lebensstandard, Erziehung und Bildung, bezahlbare medizinische Versorgung,
faire Mieten, preiswerte Lebensmittel und weniger indirekte Steuern. Der Konflikt mit den Palästinensern, die Drohungen des Iran, Terrorismus-Debatten - alles verblasst hinter der sozialen
Ungleichheit. Erstmals geht es um Kritik am eigenen Staat, um Solidarität und Basisdemokratie von und nach innen.
Dabei fehlten drei Gruppen der israelischen Bevölkerung: die Orthodoxen, die Siedler und die Oberschicht. Sie sind es, die von der Steuerpolitik der Regierung von Benjamin Netanjahu stark
profitieren. Sie sind es, gegen die sich das breite Bündnis erstmals wendet.
Reformen gefährden Regierungsbündnis
So sagte Netanjahu in direkter Reaktion auf den Marsch der 450.000 am Sonntag zwar: "Ich bin mir der wirtschaftlichen Probleme durchaus bewusst und kenne die Schwierigkeiten eine Wohnung zu
kaufen oder zu mieten. Ich weiß auch, dass obwohl die Löhne gestiegen sind, nicht viel am Ende übrig bleibt und manchmal sogar gar nichts." Aber er verwehrte sich grundlegender Veränderungen im
laufenden Haushalt und kündigte nur die Bildung einer Kommission zur Ausarbeitung von Reformen an.
Denn Orthodoxe, Siedler und Oberschicht binden ihm die Hände. Neben der Arbeitspartei von Ehud Barak, gehören der Regierung Netanjahu auch die Nationalistische Partei Israel Beitenu von
Avigor Liebermann und die orthodoxe Shas-Partei an, die Haushaltsumschichtungen zu Lasten ihrer Klientel kategorisch ablehnen. Dabei missfallen den Menschen auf der Straße vor allem die die
staatlichen Zahlungen an das Schulsystem der Orthodoxen oder die Unterstützung für die Siedlungen im Westjordanland. Doch Zugeständnis Netanjahus an die Demonstranten würde den Bestand seines
Regierungsbündnisses gefährden.
Netanjahu blieb daher am Wochenende nur auf Ende September zu verweisen, wenn die ersten Vorschläge der Reformkommission vorgestellt werden. Einer der Anführer der Proteste in Tel Aviv,
Itzik Schmuli, kündigte an, die Demonstrationen bis dahin fortsetzen zu wollen.
Ob die Israel-internen Diskussionen auch das Verhältnis zu den Palästinensern verändern können, bleibt offen. Doch die Privilegien der Orthodoxen, die Ausgaben für die Verteidigung und die
Siedlungen im Westjordanland betreffen den Gesamthaushalt des Staates und sind damit auch Teil der Verhandlungsmasse, die die Protestierenden in Tel Aviv und anderswo gerade antasten.
Die Nationale Studentenunion Israels baute zwar am Sonntag ihre Zelte auf dem Rothschild Boulevard erst einmal ab, wolle aber alles schnell wieder aufbauen, sollten "sich seitens der
Regierung keine wahren Lösungen andeuten." Den Dialog zu den arabischen Israelis und den Palästinensern hat sie unterdessen schon aufgenommen.