Extremismus

„Gewalt ist mit linken Vorstellungen unvereinbar“

Kai Doering28. März 2012

Links- und Rechtsextremismus werden zunehmend gleich behandelt. Völlig zu unrecht, wie der Politikwissenschaftler Gero Neugebauer meint. Im Interview mit vorwärts.de erklärt er die Unterschiede – und sagt, warum die „Extremismusklausel“ der Familienministerin „kompletter Unsinn“ ist.

vorwärts.de: „Extremismus wird in Deutschland immer gefährlicher“, lautete eine Schlagzeile, nachdem der Verfassungsschutz seinen letzten Bericht veröffentlicht hat. Sehen Sie das genauso?

Gero Neugebauer: Nein, ich denke, das kann man so nicht sagen, weil gar nicht klar ist, was das Wort „extrem“ überhaupt bezeichnet. Es gibt Extrem-Sportler, Extrem-Tieftaucher und ähnliches. Wenn politischer Extremismus gemeint sein soll, fange ich immer dann an zu lachen, wenn Aussagen, die von der Meinungsfreiheit klar gedeckt sind, als extremistisch bewertet werden – und unter Umständen sogar eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz rechtfertigen.

Ist Extremismus in politischen Zusammenhängen dann überhaupt der richtige Begriff?

Der Begriff gilt als Oberbegriff für Rechts- wie für Linksextremismus. Er basiert auf der Vorstellung, dass sich das politische Spektrum einer Gesellschaft auf einer Links-Rechts-Achse abbilden lässt. Aus dieser normativen Sicht heraus gelten alle Einstellungen, Verhaltensweisen, Organisationen und Ziele, die sich gegen den demokratischen Verfassungsstaat richten, als extrem. Mit diesem Begriff werden also Gegner der freiheitlichen demokratischen Grundordnung identifiziert. Das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren Urteilen konkretisiert, was damit gemeint ist, spricht aber nicht von Extremismus, sondern von Verfassungswidrigkeit.

Das Problem des Begriffs ist seine Eindimensionalität. Man muss daran zweifeln, dass die Rechts-Links-Achse geeignet ist, die vielschichtige Konfliktstruktur der Gesellschaft, in der rechts und links nur abstrakte Symbole in der politischen Kommunikation sind, abzubilden. Zudem werden in diesem Konzept die Extrempositionen, also die an den Rändern des politischen Spektrums, durch diese Positionierung als gleichartig betrachtet. Die Mitte kann nicht anders als demokratisch sein, die Ränder nicht. Damit entfällt der Extremismus der Mitte, der sich auf antidemokratische Tendenzen in allen politischen Lagern speist.

Bis 1973 war immer von „Radikalismus“ die Rede. Warum wurde der Begriff geändert?

Radikalismus bezeichnete die Verletzung der demokratischen Spielregeln bei der Konfliktaustragung, bezog sich also auf Methoden. Der damalige Innenminister Werner Maihofer hat den quasi amtlichen Extremismus-Begriff eingeführt, weil er der Meinung war, dass politische Aktivitäten und Organisationen nicht schon deshalb  verfassungsfeindlich wären, weil sie radikale, an die Wurzeln gehende Ziele hätten. Die könnten durchaus nur von einer Minderheit geteilt und dennoch im Rahmen des Grundgesetzes verfolgt werden. 

Links- und Rechtsextremismus werden häufig in einem Atemzug genannt. Kann man beide gleich bewerten?

Nein, auf keinen Fall. Die Gleichsetzung erfolgt von denen, die meinen, wer was gegen Rechtsextremismus tue, der müsse auch was gegen Linksextremismus tun; das sei ja, siehe oben, gleich. Das sei auch daran zu erkennen, dass bestimmte Phänomene und Symbole  gewisse Gemeinsamkeiten aufzeigen würden. Damit werden die fundamentalen inhaltlichen Unterschiede zwischen rechts und links geleugnet. Die Begriffe rechts und links stammen ja noch aus der Sitzordnung in der französischen Nationalversammlung nach der Revolution. Das mutet heute angesichts des Bedeutungswandels vieler Begriffe als anachronistisch an. Im Kontext von Extremismus sollte besser von antidemokratischen versus demokratische Positionen gesprochen werden. Klar ist: Rechtsextremismus ist die Summe bestimmter persönlicher Einstellungen wie Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, chauvinistischer Nationalismus, Rassismus, Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur und Verharmlosung des Nationalsozialismus. Wer diese Einstellungen hat, gilt als rechtsextrem. Dadurch werden auch die Einstellungen gegenüber der Demokratie und die Akzeptanz von Gewalt geprägt. 

Bei der Beschreibung der „linken“ Werte muss zwischen den Vorstellung zur Gestaltung der ökonomisch-sozialen (Rolle des Staates und des Marktes) sowie der politischen Ordnung (freiheitliche demokratische oder autoritäre) sowie hinsichtlich des politischen Verhaltens nach konventioneller und unkonventioneller Partizipation und Gewalttätigkeit unterschieden werden. Daneben sind die Gründe für linken politischen Protest z.B. gegen soziale Ungleichheit, gegen Diskriminierung von ausländischen Bürgern und anderes diametral unterschieden von denen, die rechten Protest bestimmen. Wenn es zu Gewaltanwendungen und gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt, greift das Strafrecht. Die Demokratie ist nicht gefährdet, wenn sich Rechte und Linken gegenseitig verprügeln. Der politischen Kultur wird damit allerdings ein Bärendienst geleistet. Ebenso wird die Vorstellung, nur die Rechten leben Gewalt in der politischen Auseinandersetzung, während in der Linken dafür eigentlich keine Akzeptanz besteht, beschädigt. Gewaltanwendung ist mit linken Vorstellungen unvereinbar. 

Gibt es inhaltliche Gemeinsamkeiten zwischen Rechts- und Linksextremismus?

Die Definitionen des Verfassungsschutzes machen klar, dass die Ziele des Rechtsextremismus generell antidemokratisch sind. Hinsichtlich der Ziele des Linksextremismus lassen sich begründete Zweifel äußern, ob beispielsweise die aus dessen Reihen kommende Kritik gegen den nationalen wie globalen Kapitalismus mit einem extremistischen Angriff auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland gleich gesetzt werden kann. Das gilt auch für antiimperialistische wie antirassistische Kritik. Zudem ist Kapitalismuskritik heute weit verbreitet und kein Monopol der Linken. Allerdings ist die oberflächliche antikapitalistische Kritik aus dem Rechtsextremismus grundsätzlich verknüpft mit nationalistischen und rassistischen Argumenten.

Wie geht die Wissenschaft mit dieser Diskrepanz um?

Nun, es gibt eine ausgeprägte, empirische Rechtsextremismusforschung mit Standards, die in der Szene weitgehend akzeptiert sind. Der linken Seite widmen sich Sozialismusforschung, Kommunismusforschung, Revolutionsforschung, Bewegungsforschung, Anarchismusforschung und anderes mehr. Wir packen all diese Richtungen aber nicht in eine große Schublade, auf der „Linksextremismus“ steht, wie es etwa Verfassungsschutz tut. Setzen Sie mal einen Anarchisten mit einem Trotzkisten oder einem Stalinisten in ein Zimmer. Die fangen nach fünf Minuten an, sich zu streiten und vielleicht auch zu prügeln, weil sie hinsichtlich der Herrschaftsordnung oder des Wirtschaftssystems komplett unterschiedlicher Meinung sind.

Bundesfamilienministerin Kristina Schröder hat dennoch die Mittel zur Bekämpfung von Links- und Rechtsextremismus zusammengefasst. Nach Ihrer Argumentation wäre das sinnlos.

Ja, das ist es auch. Natürlich gibt es einige, die sich darüber freuen, etwa wenn ein Verlag Materialien produzieren kann oder die Jugendorganisation einer Partei ihre Reise nach Berlin bezahlt bekommt, damit sie angeblich gewaltbereite Linksextremisten in Kreuzberg oder Friedrichshain besichtigen kann. Die Zusammenlegung der Mittel hat aber vor allem innerparteiliche Gründe. In bestimmten Kreisen der CDU war man wohl schon lange unzufrieden, dass die Bundesregierung ein größeres Augenmerk auf die Bekämpfung des Rechtsextremismus gerichtet hat, als sich um den Linksextremismus zu kümmern.

Dennoch sagt der Verfassungsschutz, dass die Zahl der linksextremistischen Straftaten in den vergangenen Jahren zugenommen hat. Kristina Schröder hat ein eigenes Programm zur Bekämpfung von Linksextremismus und Islamismus aufgelegt. Ist die Gefahr von links größer geworden?

Die Frage ist, was wie definiert, registriert und angezeigt wird. Politisch legitimierte Straftaten gehören zum Bereich der politisch motivierten Kriminalität (PMK). Es gibt keine Anklagen wegen Linksextremismus, sondern wegen Brandstiftung, Körperverletzung oder Landfriedensbruch. Auch Straftaten von rechts gegen Ausländer oder „gegnerische“ Einrichtungen werden unter strafrechtlichen Aspekten beurteilt. Zudem stellt sich die Familienministerin eine Art Aussteigerprogramm vor, wie es eins für Neonazis seit Jahren gibt. Das wird aber nicht funktionieren, weil Aussteigerprogramme für beispielsweise Anarchisten oder politisch extreme Linke voraussetzen, dass es typische Karriereverläufe gibt, die erkennen lassen, wann sich jemand aus politischen Gründen radikalisiert und wieder – und warum – zurückzieht. Selbst extrem linke Positionen sind Stationen in der individuellen politischen Entwicklung, aus denen man irgendwann wieder rausgeht, ohne um sein Leben fürchten zu müssen. Auch das ist ein großer Unterschied zu Rechten.

Kritisiert wird auch die so genannte Extremismusklausel, die besagt, dass Initiativen, die eine Förderung vom Familienministerium erhalten wollen, erklären müssen, dass sie und ihre Partner sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennen. Kann dieser Passus überhaupt aufrechterhalten werden?

Diese Klausel ist kompletter Unsinn, denn sie verlangt eine politische Gehorsamsleistung. Wenn man sie ernst nimmt, müssten alle Initiativen sich und ihre Kooperationspartner vom Verfassungsschutz überprüfen lassen. Allerdings stünden dafür nur die bekannten und wissenschaftlich untauglichen Kriterien zur Verfügung. Da hat die Ministerin als Politikwissenschaftlerin sich im Studium trotz ihres renommierten Professors wohl nicht mit Extremismus befasst. Wie man außer aus ideologischen Gründen auf solch eine Idee kommen kann, erschließt sich mir absolut nicht.

Spielen das Ende des Ost-West-Konflikts und der Untergang der DDR eigentlich eine Rolle bei der Neubewertung von Links- und Rechtsextremismus?

Ich denke schon. Mit dem Untergang der DDR, der Auflösung des Sowjetblocks und dem Verschwinden des alternativen Gesellschaftsmodells im Osten ist eine behauptete Bedrohung entfallen und hat das Feindbild des Kommunismus in der deutschen Politik endgültig an Bedeutung verloren. In Erfurt sitzt kein russischer Militärkommandant mehr, sondern eine CDU-Ministerpräsidentin. Auch das Wirken der ehemaligen PDS hat Einfluss auf die Entwicklung gehabt. Sie hat sich radikal gegeben, jedoch ihre Anhänger in das demokratische System integriert. In der politischen Verantwortung hat sie sich pragmatisch gezeigt, als sie als Koalitionspartner der SPD auch Regierungsverantwortung übernommen hat.

Zurzeit scheint alles auf einen neuen Anlauf für ein NPD-Verbot hinauszulaufen. Ist das der richtige Weg, gegen Rechtsextremismus vorzugehen?

Nein, wenn man glaubt, ein Verbot würde das Problem lösen. Zum einen muss die Zivilgesellschaft für die Auseinandersetzung mit rechtsextremen Einstellungen gestärkt werden. Zum anderen könnte man argumentieren, dass die Meinungsfreiheit auch die Ansichten der NPD einschließt und sich nicht davon leiten lassen, dass die das nicht in gleicher Weise akzeptiert. Sonst greift das Strafrecht, es sei denn, dass der Nachweis geführt werden kann, dass die NPD in Wort und Tat aktiv gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung vorgeht.

Allgemein denke ich, dass bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus früh angesetzt werden muss, vor allem in der Erziehung. In der familiären, gesellschaftlichen und politischen Sozialisation muss der Grundstein dafür gelegt werden, dass sich niemand rechtsextremistische Einstellungen aneignet und Gewalt als Methode der Konfliktlösung akzeptiert. Der Politik ist zuzumuten, Bedingungen dafür zu schaffen, dass rechtsextremistische Angebote nicht nachgefragt werden. Und es muss Betroffenen klar gemacht werden, dass man Unterstützung erwarten kann, wenn man aus der Szene aussteigen will.

Führt eine zunehmende Verunsicherung – sozial wie regional und wirtschaftlich – zu einem Aufblühen des politischen Extremismus?

Die unterschiedlichen Wahlerfolge rechtsextremistischer Parteien und die differenzierte Stärke der rechtsextremistischen Szene lassen das vermuten; linke Parteien wie die DKP oder MLPD profitieren davon nicht. Doch erst dann, wenn existenzielle Verunsicherungen in der Bevölkerung über die wirtschaftliche und soziale Zukunft auftauchen und derartig massive Zweifel an der Fähigkeit der politischen Institutionen entstehen, relevante Probleme zu lösen, gibt es Nachfragen an extreme linke oder rechte Angebote. Die Situation besteht zurzeit nicht.

Das gilt auch für andere angebliche oder tatsächliche Verunsicherungen wie Behauptungen einer Überfremdung und des drohenden Verlusts der nationalen Identität. Wer kein Zutrauen in seine eigenen Fähigkeiten hat und meint, komplexe Probleme ließen sich durch einfache Lösungen beseitigen, der ist geneigt, denen zu glauben, die behaupten, dass bestimmte Sündenböcke gefunden und beseitigt werden müssen, um wieder ordentliche Verhältnisse zu erreichen. Wer optimistisch ist, wer sich einbringt in Aktivitäten, die das demokratische System stabilisieren und stärken, wer die vielfältigen Wandlungen in der Gesellschaft und der Wirtschaft als Chance zur Teilhabe begreift, wer also ein offenes Weltbild hat, der ist nicht anfällig für politischen Extremismus. Dafür die Voraussetzungen zu schaffen ist eine der wichtigsten Aufgaben für die Politik und die Zivilgesellschaft.

Dr. Gero Neugebauer lehrt am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Sein Schwerpunkt ist die empirische politische Soziologie.