Parteigeschichte

Geschichtsforum: „Die SPD ist immer ein bisschen in der Gefahr, in die Nostalgiefalle zu tappen.“

Kai Doering29. April 2020
Die Wiederrichtung der SPD war Graswurzelarbeit, kein allein von Hannover aus gesteuerter Prozess: Die Vorsitzenden des Geschichtsforums, Kristina Meyer und Bernd Rother rufen Ortsvereine dazu auf, vor Ort an die Wiedergründung der Partei nach dem Zweiten Weltkrieg zu erinnern.
Die Wiederrichtung der SPD war Graswurzelarbeit, kein allein von Hannover aus gesteuerter Prozess: Die Vorsitzenden des Geschichtsforums, Kristina Meyer und Bernd Rother, rufen Ortsvereine dazu auf, vor Ort an die Wiedergründung der Partei nach dem Zweiten Weltkrieg zu erinnern.
Seit bald einem Jahr sind Kristina Meyer und Bernd Rother als Sprecher*innen des SPD-Geschichtsforums im Amt. Im Interview erklären sie, warum Geschichte für die SPD wichtig ist und wie die Partei ihre Wiedergründung vor 75 Jahren feiert.

Die SPD ist 157 Jahre alt und sehr stolz auf historische Persönlichkeiten wie Willy Brandt oder August Bebel. Lebt die Partei zu sehr in der Geschichte?

Bernd Rother: Nein, auf gar keinen Fall. Es gibt sicher einige Mitglieder, die in einer gewissen Nostalgie an bessere Zeiten leben. Aber die große Masse hat sogar eher zu wenig Kenntnis von der Parteigeschichte. Deshalb ist es nicht verkehrt, bei den passenden Anlässen auf bestimmte historische Ereignisse hinzuweisen.

Kristina Meyer: Diese Einschätzung teile ich. Die SPD ist allerdings immer ein bisschen in der Gefahr, in die Nostalgiefalle zu tappen. Die Mitglieder, die mit Willy Brandt sozialisiert wurden, sind die treuesten Teilnehmer historischer Veranstaltungen. Ihr Umgang mit der Parteigeschichte ist aber manchmal nostalgisch-verklärend. Das ist teilweise nachvollziehbar, aber man muss sich dieses Phänomen bewusst machen, wenn man produktiv mit Geschichte umgehen will. Sich allein rituell an Jahrestagen abzuarbeiten, hilft da nicht weiter.

Seit Februar 2019 gibt es das Geschichtsforum der SPD. Sie beide sind bald seit einem Jahr als Sprecher*innen im Amt. Wie fällt Ihre Zwischenbilanz aus?

Kristina Meyer: Zunächst mal mussten wir klären, was das Selbstverständnis des SPD-Geschichtsforums ist und was wir eigentlich sein und machen wollen. Wir wollen uns ja nicht nur mit Geschichte als etwas Gewesenem beschäftigen, sondern wir wollen sie anknüpfungsfähig für gegenwärtige Debatten machen. Deshalb wollen wir auch nicht nur diejenigen erreichen, die sich ohnehin schon für Geschichte interessieren, sondern gezielt auch andere und vor allem Jüngere ansprechen. Wir haben in dieser relativ kurzen Zeit schon eine Menge wichtiger Themen in Angriff genommen, etwa das Thema Sozialdemokratie und Populismus. Wir haben uns mit der Geschichtspolitik der AfD und möglichen Gegenstrategien der SPD beschäftigt – ein Thema, das uns ganz sicher weiter begleiten wird. Unser Ziel ist es, historische Themen und Debatten für SPD-Mitglieder interessant und anschlussfähig zu machen und ihnen zu vermitteln, dass wir die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte für die Bewältigung gegenwärtiger Probleme brauchen.

In diesem Jahr steht ein besonderes historisches Ereignis der Sozialdemokratie an: die Wiedergründung der SPD vor 75 Jahren. Wie erinnern Sie daran?

Kristina Meyer: Da verfolgen wir bewusst einen dezentralen Ansatz. Anstelle einer Großveranstaltung etwa in Berlin oder am Gründungsort Hannover – die unter den derzeitigen Bedingungen ohnehin nicht möglich wäre – wollen wir die Ortsvereine dazu motivieren, an die lokale Wiedergründungsgeschichte zu erinnern: Nicht nur in Hannover, wo Kurt Schumacher die Initiative ergriff, sondern im ganzen Land fanden sich unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs Menschen zusammen, die die Sozialdemokratie nach zwölf Jahren Diktatur wiederbeleben wollten – und damit eine wichtige Voraussetzung für den Aufbau der Demokratie insgesamt schufen. Die Wiederrichtung der SPD war Graswurzelarbeit, kein allein von Hannover aus gesteuerter Prozess. Deshalb haben wir Anfang des Jahres die Parteigliederungen dazu aufgerufen, mit eigenen kleinen Veranstaltungen vor Ort an die Wiedererrichtung unserer Partei vor 75 Jahren erinnern. Dafür stellt das Geschichtsforum Materialien bereit und vermittelt auch gern Referentinnen und Referenten. In Zeiten der Corona-Pandemie wird vieles davon sicher nur in digitalen Formaten umsetzbar sein – öffentliche Gedenkveranstaltungen kann es rund um den 8. Mai wohl leider nicht geben.

Wie kann es gelingen, aus den Ereignissen vor 75 Jahren Impulse für die Gegenwart und die Zukunft aufzunehmen?

Bernd Rother: In der Auseinandersetzung zwischen Schumachers Linie in den Westzonen und der von Otto Grotewohl geführten SPD in der Sowjetischen Besatzungszone ging es um Freiheit und Demokratie. Dort, wo sich Sozialdemokrat*innen frei äußern konnten, entschieden sie sich mit großer Mehrheit für den Vorrang der Freiheit. Die SPD ist die Partei der Freiheit – so hat es Willy Brandt formuliert. Das ist immer wieder ein Auftrag an die praktische Politik. Antworten kann man in der Geschichte zwar nicht finden, aber Orientierungspunkte wie diesen.

Was unterscheidet die Arbeit des Geschichtsforums von der der Historischen Kommission?

Bernd Rother: Unser Ansatz geht weiter. Das hat Kristina ja bereits beschrieben: Wir wollen Geschichte noch stärker für gegenwärtige Debatten nutzbar machen. Deshalb knüpfen wir bewusst Kontakte zu Gruppen, mit denen die Historische Kommission zuvor nichts zu tun hatte, etwa zu den Jusos. Auch die Kontakte zu den regionalen Historischen Kommissionen haben wir ausgebaut. Und wir suchen uns auch Kooperationspartner außerhalb der SPD.

Die Wiedergründung der SPD vor 75 Jahren steht in diesem Jahr im Mittelpunkt. Mit welchen Ereignissen beschäftigt sich das Geschichtsforum 2020 sonst noch?

Kristina Meyer: Für den November planen wir eine Tagung, bei der es um den Umgang der SPD mit gesellschaftlichen Krisen und Umbrüchen seit 1945 gehen wird. Demokratisierungsprozesse und Generationenkonflikte in Partei und Gesellschaft werden dabei eine Rolle spielen, aber auch der Komplex Ökologie und Globalisierung. Unser Ziel ist dabei keine historische Fachtagung, sondern ein Austausch zwischen Wissenschaftler*innen, aktiven Politiker*innen und Journalist*innen. Denn nur wenn wir aus der „Blase“ derjenigen herauskommen, die sich ohnehin schon mit der Geschichte der Sozialdemokratie beschäftigen, können wir mit unserer Arbeit etwas erreichen und produktive Debatten anstoßen.

Neue Kolumne des SPD-Geschichtsforums

Ab Mai wird das SPD-Geschichtsforum mit einer neuen Kolumne auf vorwärts.de vertreten sein. Unter dem Titel „Im Rückspiegel“ werden wechselnde Autor*innen historische Ereignisse, die für die SPD bedeutend sind, beleuchten. Im Rückspiegel eines Autos sieht man bekanntlich nach hinten, aber wenn man ihn etwas kippt bzw. dreht, sieht man sich selbst. Um Vergangenheit und Gegenwart soll es in der Kolumne gehen.

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Kommentare

Neue Zeitumstände benötigen neue Antworten

Gerade die im Beitrag beschriebenen rituellen Verklärungen der Geschichte bergen die Gefahr, dass weiterhin mit längst überholten politischen Parolen, oft sogar erfolgreich, versucht wird Beifall, insbesondere vom konservativen Teil der Parteibasis zu bekommen. Ergebnis dieses populistischen Nostalgiegebahrens ist dann aber ein Armutszeugnis wie es sich auch u. gerade in den überwiegenden Wahl- und Umfrageergebnissen unserer Partei widerspiegelt. Wahlerfolge gibt es wenig, zuletzt durch die überwiegend eher konservativ gestimmten Hamburger Bürgerschaft, wobei der Wahlsieg dort am Ende nur gelang, weil in letzter Sekunde mit der Übernahme des fortschrittlicheren Grünen-Programmatik auch noch progressive WählerInnen gewonnen wurden !
Versäumt wurde von den gesch. SPD- Parteiführungen die Diskussion innerhalb und außerhalb unserer Partei breit zu öffnen (m. wissenschaftlichen Beeistand), um Begriffe wie "Arbeit" und "Wohlstand" neu zu definieren u. durch zeitgemäße, zukunftsfähige, visionäre Definition, die historisch einmal gewachsene diesbezügliche Kompetenz der SPD in die neue Zeit zu retten.
Aus der Geschichte lernen heißt: In der Gegenwart akt. u. zuk. Unrecht verhindern !

Partei heute in tiefster Krise ihrer Geschichte

Ein Blick in die Vergangenheit ist sinnvoll, um zu lernen und Ideen für Gegenwart und Zukunft zu gewinnen. Zu sehr sollte man aber nicht auf die Vergangenheit fixiert sein, sonst vergisst man schnell die Zukunft. Auch gibt es die Tendenz, zu streng mit Entscheidungen von früher umzugehen.

Fakt ist, dass die Partei in ihrer größten Krise steckt. Ein Überleben ist nicht gesichert, die Umfragen sind katastrophal schlecht. Aber viele scheinen den Ernst der Lage nicht begriffen zu haben, und machen im gewohnten Trott weiter.

Ein Wiederaufbau muss über Kommunen und Länder kommen. Aber es ist gerade die Ebene der Länder, wo es extrem schlecht aussieht. In vielen Ländern ist die 5% Hürde nahe, und wir stellen nur noch vier "echte" MP, von denen drei schlechte Chancen auf eine Wiederwahl haben.

Ein Regierungswechsel im Bund wurde aber in der Regel in den Ländern vorbereitet bzw. angestoßen. Das war 1969, 1982, 1998 und 2005 der Fall. Die SPD hat auf Ebene der Länder in den letzten Jahren aber keine Fortschritte erzielt, sondern Rückschläge hinnehmen müssen.

Missstände der Gegenwart Folgen polit. Fehler der Vergangenheit

Was die aktuellen. in immer kürzeren Abständen auftretenden zunehmend gravierenderen, inzwisch. mehrfach parallel laufenden Krisen und Katastrophen anbelangt, so rühren sie allesamt aus falschen politischen Weichenstellungen, fehlenden Rahmensetzungen u. unterlassenen Begleitmaßnahmen aus der Vergangenheit. An Vielem davon, auch an fahrlässig Unterlassenem, war und ist traurigerweise unsere SPD beteiligt. Da wurde und wird der Faktor Arbeit, der im alten SPD-Sinne mit Maximalkonsum einhergeht, unter Beifall aus konservat. Teilen der Gewerkschaft über Alles gestellt. Umwelt, Klima ,Lebensräume, regionale Lebenswelten das waren bislang nicht die Themen der SPD! Da dürfen wir schon mal im mehrfachdeutigen Sinne fragen: "Sind wir eigentlich noch zu retten" ? Da ist beim Blick in die Vergangenheit schon etwas Strenge geboten, sonst nimmt uns kein/e Wähler/in die Lern- und die Zukunftsfähigkeit ab.
Das die SPD mit Olaf Scholz im Finanzministerium aktuell in Umfragen kaum von der Corona-Krisenbewältigung profitiert, könnte auch daran liegen, dass viele Misstände (wg. fehlender Steuerreform u. gleichz. Schwarzer-Null-Dogmatik!) (Pflegenotstand, kaputte Schulen...) akt. sehr deutlich sind!

Die SPD hat den Umweltschutz (politisch) erfunden

Ihr Satz "Umwelt, Klima ,Lebensräume, regionale Lebenswelten das waren bislang nicht die Themen der SPD!" zeigt, wie wichtig die Arbeit des Geschichtsforums ist. Von wem stammt der Satz, "Der Himmel über der Ruhr muss wieder blau sein"? Wer hielt 1985 den Vortrag "Ökologie – Einsichten und Durchsetzung"? Und wer hat das Erneuerbare-Energien-Gesetz erfunden? Die Antworten dürften Sie überrraschen.

Stichwort Glaubwürdigkeit

Wir alle wissen, wie schwer es Vor- und Querdenker wie Erhard Eppler u.a. in unserer Partei hatten und viele heute noch haben.
Ich habe von SPD-Akteuren in hohen politischen Amt und Würden 2018 noch Sätze gehört wie "Klimaschutz? Das ist doch allenfalls das Hobby der Grünen" !
Wie schwer sich die SPD tat mit der Beendigung der Kohleverstromung kann man jederzeit im "Vorwaerts" nachlesen.
Beim EEG wurden die Extremverbraucher aus der Industrie verschont und dezentrale, bürgernahe Energieversorger wie Energiegenossenschaften bei der Umsetzung ihrer Vorhaben behindert ! Ein wiederholter Fehler unserer SPD immer auf die BIG-Player im neoliberalen Spiel zu setzen !
Dann wurde die Förderung f. Solarstrom gekappt und die zarten Pflänzchen unserer Solarindustrie gingen kaputt.
Das glaubt uns keiner, dass wir in Sachen Schutz der Lebensgrundlagen mit Herzblut bei der Sache sind. Über die Autoindustrie, ihre traurige Rolle beim Klimaschutz unter Aufsicht u.a.von SPD-Personal im Aufsichtsrat, könnte auch noch etwas gesagt werden! Die SPD setzte zu lange weiter auf Kohleverstromung und auf den Verbrenner-getriebenen Individual-Verkehr !!!
Stichwort: Glaubwürdigkeit !!?

Diese Erfindung ist etwas Älter

"Brüsten wir uns nicht unserer Siege über die Natur, denn für jeden davon rächt sie sich an uns". "Auch wenn wir die Gesetze der Natur immer besser verstehen und zu unseren Zwecken nutzen, so dürfen wir doch nie vergessen, daß wir selbst Teil dieser Natur sind". Beide schrieb der Sozialdemokrat Friedrich Engels, und der ließ sich schon 1844 über die Wasser- und Luftqualität in den Arbeitervierteln Manchesters aus.
.....aber die Politik des Atomkanzlers Schmitt führte zur Gründung der "Grünen" und auch der blaue Himmel mit den hohen Schornsteinen hatte seine Dialektik: Waldsterben .... erst dann kam die Entschwefelungstechnologie...... . Lange Kämpfe gegen "die Wirtschaft" und auch innerhalb der SPD. So einfach ist das nicht mit dem Rufen; Wir sind die Guten.

Geschichte der SPD

Die SPD tut sich schwer mit ihrer Geschichte, denn allzuoft fanden sich die Parteioberen Akteure auf einmal jehnseits des Parteiprogramms. Das geht 1914 so richtig los, dann geht es 1918/20 kräftig weiter. dann immer der Spruch: die kommis sind schuld. NSDAP Leute in der NachkriegsSPD, Wiederbewaffnung, NATO-Integration, Gerhard Schröder und auch noch der ganze Atlantizismus.
Diese Sünden und Versäumnisse (bei Noske nenne ich das Verbrechen) müssen aufgearbeitet werden, was aber Verdienste nicht schmälern soll.
Am 21. 5. jährt sich der Mord an Hans Paasche, einem der Sozialdemokratie nahestehenden Ex-Konservativen kaiserlichen Offizier, zum 100sten Mal. Da könnte ein Anfang sein.