Lesung

Geloste Demokratie: Hat das Wählen ausgedient?

Peter Schraeder12. September 2016
Demokratie per Losverfahren
Demokratie per Losverahren? David Van Reybrouck ist von seiner Idee überzeugt
Europa und die USA 2016: Immer mehr Menschen verlieren das Vertrauen in die etablierten Parteien, Rechtspopulisten fordern die Demokratie heraus. Was tun? Der Autor David Van Reybrouck schlägt vor: Statt zu wählen, sollten wir losen.

Gebündelt hat Van Reybrouck seine Ideen in seinem neuen Buch „Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist“, dass er auf dem Internationalen Literaturfestival Berlin präsentierte. Ein entscheidender Anlass für die Entstehung des Buchs war die belgische Regierungskrise der Jahre 2010 und 2011: Damals war der Beneluxstaat 541 Tage ohne Regierung, die Parteien konnten sich auf keine Koalition einigen.

Demokratie – ein veraltetes System?

Van Reybrouck zieht ein vernichtendes Fazit über das bisherige System der Wahl-Demokratien. Obwohl die Einwohner westlicher Staaten so gebildet seien wie nie zuvor in der Geschichte, dürften sie nur alle vier bis fünf Jahre einmal über die Politik abstimmen. „Wir stützen uns auf ein System des 18. Jahrhunderts. Bei der damals ungebildeten Bevölkerung war das vernünftig. Heute ist es das nicht mehr“.

Außerdem würden Politiker oftmals falsche Entscheidungen treffen, um keine Wähler zu vergraulen. „Demokratie ist nicht da, um alle glücklich zu machen. Sie ist dazu da, mit Konflikten umzugehen“, so der Kulturhistoriker.

Aber auch antiparlamentarischen Bewegungen steht er kritisch gegenüber. Genauso wie dem Ruf nach Volksabstimmungen. Das Brexit-Referendum sei ein denkbar primitives Instrument gewesen, um über eine so wichtige Frage wie den Verbleib in der Europäischen Union abzustimmen.

Bürgerräte per Losverfahren

Die Alternative, die Van Reybrouck ins Spiel bringt, klingt zunächst nach Lotterie: Per Zufall soll eine repräsentative Zahl an Einwohnern für einen klar begrenzten Zeitraum in einen Bürgerrat gewählt werden, der dann die politischen Entscheidungen trifft.

Damit diese Zufalls-Räte funktionieren, müsse man den Bürgern alle Experten an die Hand geben, die sie verlangen. Niemand solle gezwungen werden, an den Gremien teilzunehmen­ – aber per Bezahlung könne ein Anreiz geschaffen werden. Auch Lobbyisten würde die Beeinflussung der Politik so schwerer fallen, da sie keine dauerhaften Netzwerke mehr aufbauen könnten. „Außerdem bräuchte man eine Moderation der Debatten“.

Vernunft gegen Hass

Die Idee ist keineswegs neu, im Gegenteil. Schon im antiken Athen kamen Mandatsträger über ein Losverfahren in ihr Amt. Auch italienische Stadtstaaten des Mittelalters wie Venedig und Florenz bedienten sich des Zufalls, um ihre Entscheidungsträger zu bestimmen. Allerdings zeigen diese Vorbilder auch, dass die Menge, aus der die Repräsentanten gewählten werden, nicht zu groß sein darf. „Jeder sollte mal dran kommen“, sagt Van Reybrouck.

Tatsächlich gibt es ein Beispiel aus der Gegenwart: Die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe in Irland. Die wurde zwar vergangenes Jahr ­– mit deutlicher Mehrheit ­­– in einem Volksentscheid beschlossen. Dem vorausgegangen war allerdings ein Bürgerrat, der sich zu einem Drittel aus Politikern und zwei Dritteln aus zufällig bestimmten Iren zusammensetzte. Es war dieser Rat, der sich zuerst für die Legalisierung der Ehe von Schulen und Lesben aussprach.

Wie das Ziel erreichen?

Bei der Erklärung des Wegs hin zur Los-Demokratie bleibt Van Reybrouck schwammig. Ein besonders Hindernis seien die hasserfüllten Streitereien und Anfeindungen, die insbesondere von den Sozialen Netzwerken gefördert würden. Kommerzielle Unternehmen hätten andere Ziele, als den Dialog zu fördern. „Heute reden Gegner nur noch übereinander, nicht mehr miteinander“, beklagt Van Reybrouck.

Das größte Hindernis seien aber die Politiker der Gegenwart und Journalisten, die sich an die engen Kontakte zu den Entscheidungsträgern gewöhnt hätten. „Es ist wahrscheinlich einfacher einen AfD-Wähler zu überzeugen eine andere Partei zu wählen, als einen Politiker davon, Macht abzugeben.“ Hoffnung schafft wieder mal die Geschichte: Auch das Frauenwahlrecht habe sich trotz größter Widerstände am Ende durchgesetzt.

* David Van Rebrouck ist ein belgischer Archäologe und Kulturhistoriker. Bereits sein Buch „Kongo: Eine Geschichte“ war ein großer Erfolg.

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Kommentare

Volksabstimmungen

Den Brexit als Argument gegen Volksabstimmungen anzuführen, hinkt, da er ein Referendum "von oben" war ohne breite Informationsdebatten im Vorfeld. Nähmen wir jedoch die Methode der Schweiz mit Volksbegehren "von unten" mit breiter Gesellschaftsdebatte über 1- 2 Jahre und verbessern es um eine Verfassungsgerichts-Überprüfung, kämen wir zu Mehrheits-Sachentscheidungen fern von Parteien und Lobbyismus sowie echter Demokratie. Es lohnt sich also, dieses Mehr-Demokratie-Konzept genauer anzuschauen, zumal jeder Bürger, also auch Parlamentarier, ein solches Verfahren anstoßen kann. Zweifel an der Fachkompetenz des Initiativ-Bürgers kämen nach einem solch hürdenreichen Procedere sicher nicht mehr auf.