
Hakan Demir, als Bundestagsabgeordneter aus Berlin bekommen Sie die Ankunft der Geflüchteten aus der Ukraine direkt mit. Was passiert eigentlich gerade in der Bundeshauptstadt?
Allein Montag sind rund 5000 Geflüchtete in Berlin angekommen. Den vielen Ehrenamtlichen, die täglich von morgens bis nachts die Ankunft der Menschen aus der Ukraine begleiten, ihnen Nahrung und Getränke geben, eine Unterkunft anbieten oder sie zum richtigen Bus zur Weiterfahrt lotsen, verdanken wir sehr viel. Ohne das ehrenamtliche Engagement dieser vielen Freiwilligen und ihre Solidarität wäre die Aufnahme der Geflüchteten nicht zu bewältigen.
Das Land Berlin hat verschiedene Unterkünfte angemietet, wie Hostels, aber auch Hallen in der Messe oder am alten Flughafen Tegel. Viele Kirchen und andere zivilgesellschaftliche Organisationen stellen eigene Räume zur Verfügung, die momentan noch nicht genutzt werden müssen. Am wichtigsten ist es, denen, die jetzt ankommen, eine Unterkunft anzubieten. Das ist nicht einfach, aber das Land Berlin, die Hilfsorganisationen und die vielen Ehrenamtlichen arbeiten täglich gemeinsam daran, weitere Lösungen zu finden.
Wo gibt es denn noch Verbesserungsbedarf, wo ist noch Unterstützung notwendig?
Berlin als Großstadt zieht natürlich viele Menschen an, die über Polen nach Deutschland kommen. Viele haben Freunde oder Familie hier oder wollen in der Nähe bleiben. Das ist klar. Zurzeit kommen viele Menschen auch privat unter. Klar ist aber auch: Wir brauchen eine Verteilung auf ganz Deutschland und das erfolgt nun auch.
Ist die Situation mit 2015 vergleichbar, als viele Geflüchtete aus Syrien nach Deutschland kamen?
Nein, die Situation ist eine andere. Damals haben die Menschen aus Syrien regulär Asyl beantragen müssen und wurden schnell auf die Bundesländer verteilt. Mit der europäischen Richtlinie über den vorübergehenden Schutz der Menschen, die aus der Ukraine fliehen, erhalten sie eine unbürokratische und schnelle Aufnahme, sie dürfen arbeiten und erhalten Zugang zu Sozialleistungen und der Gesundheitsversorgung. Die ersten 90 Tage sind Ukrainer*innen auch visumsfrei. Viele Kommunen haben aber, wie auch schon 2015, signalisiert, dass sie grundsätzlich Geflüchtete aufnehmen wollen. Diese Entwicklungen müssen wir fördern und annehmen, um bundesweit Aufnahmekapazitäten zu schaffen.
Allerdings handelt ja weder das Land Berlin noch Deutschland alleine. Sehen Sie auch auf europäischer Ebene einen Unterschied zur Situation 2015/2016?
Die politische Situation in Syrien und die in der Ukraine sind nicht vergleichbar. In beiden Ländern hat der Krieg aber Menschen dazu gezwungen, vor Gewalt zu fliehen. Es darf keinen Unterschied machen, woher jemand kommt. Unsere Prämisse muss es sein, alle vor Krieg und Gewalt fliehenden Menschen zu unterstützen und ihnen Sicherheit zu bieten. Deswegen bin ich froh, dass die europäischen Länder nun gemeinsam solidarisch handeln. Das gab es 2015 so nicht. Die Schutzgewährungs-Richtlinie der EU wurde nun zum ersten Mal genutzt, weil sich alle EU-Länder einig waren, dass schnell und unbürokratisch geholfen werden muss.
Hakan Demir ist SPD-Bundestagsabgeordneter für Berlin-Neukölln und Mitglied des Innenausschusses. Innerhalb der SPD-Bundestagsfraktion ist er Mitglied der Arbeitsgruppe Migration und Integration. Während seines Bundestagswahlkampfes war er außerdem als Blogger für den „vorwärts“ aktiv. Geboren wurde Demir am 16. November 1984 in der Türkei, aufgewachsen ist Demir aber in Krefeld am Niederrhein. Er studierte später Politikwissenschaft an der Universität Trier.Zur Person: Hakan Demir
Natürlich kann man fragen, warum das 2015 nicht so war. Ich will aber nach vorne schauen. Ich bin froh, dass es jetzt eine so große Hilfs- und Aufnahmebereitschaft gibt und hoffe, dass es die auch für die Zukunft bei anderen Krisen geben wird.
Aber nochmal zurück zur Gegenwart in Deutschland: Wird es erstmal so weitergehen wie in den vergangenen Wochen oder erwarten Sie neue Herausforderungen?
Ich gehe davon aus, dass wir die Verteilung innerhalb Deutschlands hinbekommen werden. Damit würden Städte wie Berlin entlastet. Grundsätzlich wünsche ich mir natürlich einen Waffenstillstand in der Ukraine und dass die Menschen – wenn sie wollen – bald in ihr Land zurückkehren können.
Erstmal befürchte ich aber, dass der Krieg noch anhalten wird. Deshalb gehe ich davon aus, dass noch mehr Menschen nach Deutschland kommen werden. Zurzeit verbleiben ja die meisten der Geflüchteten in Polen. Das Land übernimmt sehr große Verantwortung. Deutschland wird vermutlich auch noch mehr Menschen aufnehmen.
Und: Wir können nicht davon ausgehen, dass die Menschen, die gerade bei uns ankommen, kurzfristig wieder in die Ukraine zurückkehren, selbst wenn der Krieg jetzt sofort enden würde. Viele Menschen werden, zumindest vorübergehend, bleiben wollen. Das sollte ermöglicht werden.
Auf europäischer Ebene brauchen wir außerdem eine doppelte Solidarität: Einerseits mit den Menschen, die in die EU fliehen, andererseits mit den Ländern, in denen die Menschen ankommen. Dafür steht auch unsere Innenministerin Nancy Faeser.
Gibt es ganz akut noch Probleme, die gelöst werden müssen?
Tatsächlich treibt mich eine Frage noch ganz konkret um: Was ist mit den Menschen, die in der Ukraine gelebt haben, aber eigentlich aus einem anderen Staat kommen und jetzt bei uns Schutz suchen?
Ein Beispiel: Eine indische Familie lebt in der Ukraine, die Eltern arbeiten dort vorübergehend für ein paar Jahre, die erwachsenen Kinder haben vielleicht eine Ausbildung oder ein Studium dort angefangen. Diese Familie ist jetzt auch nach Deutschland geflohen. Oder was ist mit Menschen aus Russland, die in der Ukraine leben, die in keins der beiden Länder zurückkehren können? Erhalten diese Menschen jetzt denselben Status wie Menschen mit ukrainischem Pass, müssen sie ein reguläres Asylverfahren durchlaufen oder müssen sie in ihr Herkunftsland zurückkehren, wenn es dort sicher ist?
Meine politische Meinung dazu ist klar: Alle Menschen, die aus der Ukraine kommen und auch vor Kriegsbeginn nachweislich dort gelebt haben, sollten gleich behandelt werden und die gleichen Rechte haben. Natürlich bekommen alle Menschen, die aus der Ukraine flüchten, erstmal Schutz bei uns. Die Frage ist aber, unter welchen Bedingungen. Da ist es dann leider nicht mehr so einfach. Es wird juristisch unterschieden auf europäischer und auf deutscher Ebene. Ich hoffe, dass wir da bald eine klare Regelung finden.