Arbeitsmarkt

„Es gab Fehlentwicklungen“

23. März 2010

vorwärts.de In der vergangenen Woche hat die SPD ihr neues Arbeitsmarktpapier vorgestellt. Ist das die Totalabkehr von der Agenda 2010?

Andrea Nahles: Nein. Viele Punkte der Agenda haben sich bewährt. An denen wollen wir auch festhalten. Dazu zählt die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Früher sind
die Leute von einer Behörde zur anderen geschickt worden, heute erhalten sie die Hilfe aus einer Hand. Auch den Aktivierungsansatz bei der Arbeitsmarktförderung verteidigen wir. Es gab aber auch
Veränderungen durch die Hartz-Gesetze, die Fehlentwicklungen waren und bis heute von den Menschen nicht akzeptiert werden. Zentral ist die Vermögensprüfung für die Empfänger von Arbeitslosengeld
II. Darauf können wir gut verzichten.

Ein Kernpunkt des Papiers ist die Leiharbeit. Fast jeder zehnte Arbeitnehmer in Deutschland ist mittlerweile prekär beschäftigt. Was tun?

Das ist ein ernstes Problem. Ursprünglich war die Leiharbeit als Instrument gedacht, den Arbeitsmarkt flexibler zu machen. Mittlerweile wird es im großen Stil zum Lohndumping missbraucht.
Da müssen wir das Gesetz ändern: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit ohne Ausnahmen!

Daneben soll der soziale Arbeitsmarkt ausgebaut werden. Wie soll hier die Vernichtung regulärer Arbeitsplätze verhindert werden?

Indem wir uns mit den Handwerkskammern und Gewerkschaften vor Ort an einen Tisch setzen und gemeinsam Arbeitsbereiche festlegen, in denen Menschen eingesetzt werden können, die keine
Aussicht auf eine reguläre Beschäftigung haben. In manchen Regionen sind solche Modelle bereits erprobte Praxis. Man kann sehr viel sinnvolle Arbeit verrichten, ohne reguläre Arbeitsplätze zu
verdrängen.

Welche Rolle spielen Fort- und Weiterbildung?

Als Arbeitsminister hat Olaf Scholz den Rechtsanspruch auf einen Schulabschluss bereits durchgesetzt. Es muss auch einen Rechtsanspruch auf einen Berufsabschluss geben. Unsere Idee ist,
dass sich der Staat dazu verpflichtet, jedem einen Berufsabschluss zu garantieren, der drei Jahre nach Ende seiner Schulzeit noch keinen Ausbildungsplatz hat. Für die Zukunft jedes Einzelnen,
aber auch der deutschen Wirtschaft ist das wichtig. Daneben soll jeder, der eine Ausbildung abgeschlossen hat, das Recht haben, eine Hochschule zu besuchen. Das verstärkt die Durchlässigkeit des
Bildungssystems immens. Und schließlich brauchen wir dringend Änderungen bei der Anerkennung von Bildungsabschlüssen von Migranten. Hier gibt es noch einen riesigen Stau.

Wie realistisch ist es überhaupt noch, am Ziel der Vollbeschäftigung festzuhalten?

Ich halte das für sehr realistisch. In naher Zukunft werden wir eine Gesellschaft mit weniger jungen Menschen haben. Dadurch kann sich eine paradoxe Situation ergeben:
Massenarbeitslosigkeit bei gleichzeitigem Fachkräftemangel. Die Gefahr besteht aber nur, wenn wir zu wenig Geld in die Qualifizierung der Menschen stecken. Deshalb wollen wir - auch das ist Teil
unseres Papiers - bei Arbeitslosigkeit sofort gucken, wo es Qualifizierungslücken gibt und diese schließen. Um Vollbeschäftigung zu erreichen, brauchen wir eine Offensive für Qualifizierung und
für eine zweite oder gar dritte Chance.

Muss Arbeit im 21. Jahrhundert also generell neu gedacht werden?

Auf jeden Fall. Die Zukunft der Arbeit sollte ein zentrales Thema der SPD in den kommenden Jahren sein. Der Strukturwandel am Arbeitsmarkt vollzieht sich rasant. Dienstleistungen sind im
Kommen, werden aber noch schlecht bezahlt und weniger anerkannt als andere Formen von Arbeit. Zusätzlich steigt der Leistungsdruck, über den zunehmend auch Junge klagen. Ihr Problem ist auch,
dass sie immer später auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen, selbst wenn sie gut qualifiziert sind. Das sind die Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen.

Die Parteibasis soll das Arbeitsmarktpapier in den kommenden Monaten diskutieren. Wie wird das aussehen?

Ich ermuntere alle Kreisverbände und Unterbezirke, in Veranstaltungen über die Inhalte des Papiers mit Gewerkschaften und sozial Engagierten zu diskutieren. Der Parteitag im September
bildet dann den Abschluss. Dort werden wir unser arbeitsmarktpolitisches Programm beschließen.

Zum Arbeitsmarkt gehören auch die Job-Center. Was halten Sie von dem
Vorschlag, dort die Stelle einer Frauenbeauftragten mit dem Schwerpunkt
alleinerziehende Mütter einzurichten
?

Das ist eine sehr gute Idee.

Interview: Kai Doering

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