Flüchtlingspolitik

Wie Frankreich beim Thema Flüchtlinge seine Tradition verrät

18. September 2015
Frankreich will innerhalb von zwei Jahren 24 000 Flüchtlinge aufnehmen. Fast drei Viertel der Bevölkerung halten das für völlig ausreichend. Von der Flüchtlingskrise profitiert vor allem die rechtsextreme Partei von Marine Le Pen.

Gerade einmal zwölf Stunden nach der Flüchtlingsdebatte in der Nationalversammlung sind am Donnerstagmorgen dunkelrote Busse am Pariser Bahnhof Gare d'Austerlitz vorgefahren. Sie brachten hunderte Flüchtlinge, die dort seit Monaten im Freien hausen, in Unterkünfte am Stadtrand. „Es war unwürdiges Leben im Zelt“, sagte einer der Bewohner vor der Abfahrt im Fernsehen. Schon im Juli hatten zahlreiche Prominente die sozialistische Bürgermeisterin Anne Hidalgo aufgefordert, den Menschen, die am Gare d'Austerlitz und anderswo in Paris unter freiem Himmel leben, eine Herberge zu bieten. Denn Flüchtlinge, die noch kein Asyl beantragt haben, bekamen bisher in Paris auch kein Dach über dem Kopf. „Wir sind entsetzt über die unmenschliche Lage, die eine Schande für die humanistische Tradition ist, in der sich unsere Regierung sieht“, schrieben Juliette Binoche, Omar Sy und andere in einem offenen Brief.

Viele Flüchtlinge wollen nicht in Frankreich bleiben

In Paris ist die Unterbringung der Flüchtlinge inzwischen weitgehend geregelt, doch in Calais am Ärmelkanal leben noch rund 3000 Menschen aus Syrien, dem Irak, Eritrea und dem Sudan unter Zeltplanen und warten auf eine Gelegenheit, auf Lastwagen oder im Zug nach England zu kommen, wo sie auf Arbeit hoffen. In Frankreich mit seiner Rekordarbeitslosigkeit von gut zehn Prozent sehen sie nur wenig Chancen. Auch unter den in Deutschland angekommenen Flüchtlingen aus Syrien und dem Irak ist Frankreich wenig attraktiv. Nachdem Präsident François Hollande vergangene Woche angeboten hatte, rund 1000 Flüchtlinge aufzunehmen, meldeten sich in München zunächst nur 500 Freiwillige.

„Frankreich war immer in der Lage, die Misshandelten, Verfolgten, Vertriebenen aufzunehmen“, sagte der Sozialist Hollande vergangene Woche bei seiner Pressekonferenz. Doch das traditionelle Einwanderungsland, das in den 30er Jahren nach absoluten Zahlen direkt hinter den USA lag, hat nun Mühe mit den Neuankömmlingen aus den Kriegsgebieten: Laut einer Umfrage ist nur die Hälfte der Franzosen dafür, in ihrer Gemeinde Flüchtlinge aufzunehmen. Nur 40 Prozent erklären sich bereit zu helfen und für 70 Prozent ist die Zahl von 24 000 Menschen, deren Aufnahme Hollande innerhalb von zwei Jahren in Aussicht stellte, völlig ausreichend.

In der Bevölkerung dominiert Skepsis

Vor allem kleinere Gemeinden wehren sich dagegen, die Flüchtlinge willkommen zu heißen. Vor „vielen kleinen Calais“ warnte der Vorsitzende der Bürgermeistervereinigung, der konservative Ex-Minister François Baroin. Zwei seiner Kollegen schlugen vor, in ihren Kommunen nur Christen aufzunehmen – eine Trennung, die die sozialistische Regierung scharf ablehnt. 

„Bevor die Tür geöffnet wird, denkt man an erster Stelle an die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und dann an das Terrorrisiko“, erklärt die Zeitung „Le Monde“ die zögerliche Haltung der Franzosen. Die Entscheidung Deutschlands, Grenzkontrollen einzuführen, könne nun auch in Frankreich den Wunsch nach mehr Schutz wecken, warnt der Meinungsforscher Yves-Marie Cann. Die Zahlen geben ihm Recht: 80 Prozent der Franzosen sind für die Wiedereinführung von Grenzkontrollen. Noch weiter geht die Rechtsextreme Marine Le Pen, die seit Jahren die Abschaffung des Schengen-Raums mit seinem freien Personenverkehr fordert.

Front National als Profiteur der gegenwärtigen Krise

Die Chefin des Front National, die für einen Einwanderungsstopp eintritt, profitiert von der Flüchtlingskrise: 34 Prozent der Franzosen fühlen sich ihren Positionen nah. Damit liegt die EU-Gegnerin vor Hollande und dem konservativen Oppositionsführer Nicolas Sarkozy. Mit ihren radikalen Forderungen lockt Le Pen auch im laufenden Regionalwahlkampf zahlreiche Menschen an. Die Nationalversammlung blieb dagegen am Mittwoch bei der Flüchtlingsdebatte halb leer. „Schade, dass so wenig gekommen sind, denn das Thema ist wichtig für unser Land“, kommentierte Regierungschef Manuel Valls bitter.

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