Die Bilder, die uns in der letzten Woche aus dem brennenden Moria auf Lesbos erreichten, waren bestürzend. Doch schon vor dem Brand waren die Zustände in und um die Aufnahmeeinrichtungen auf den griechischen Inseln katastrophal und untragbar. Die Fragen sind nicht neu: Warum gelingt es nicht schneller, die Menschen dort herauszuholen und die völlig überfüllten und unwürdigen Flüchtlingslager zu entlasten, indem die Gestrandeten – ein Drittel von ihnen Minderjährige – zunächst auf das Festland oder weiter in andere, weniger belastete Länder, verteilt werden?
Der Pull-Faktor als Vorwand
Als Antwort wird man auf unendlich viele Schwierigkeiten verwiesen. Doch im Kern geht es um folgenden Satz: Je mehr man helfe, desto mehr kämen nach. Das ist die große, oft unausgesprochene Angst – unter Fachleuten „Pull-Faktor“ genannt. Ein Faktor, der das Elend zementiert. Oder sogar den Tod in Kauf nimmt.
Das Argument Pull-Faktor, ob aus Sorge vor der eigenen Überforderung vorgetragen oder lediglich vorgeschoben, weil man einen Grund sucht, nicht zu helfen, ist tatsächlich einer der wichtigsten Einflussfaktoren auf die internationale Flüchtlingspolitik. Denn er blockiert seit jeher wirksame Lösungen für die Aufnahme und Verteilung von Menschen auf der Flucht. Viel zu oft dient er sogar als Vorwand, um Schutz zu reduzieren. Wer Lösungen will, muss das Argument umdrehen. Niemand lässt leichtfertig alles zurück. Wer flieht, hat dafür Gründe, meist sogar mehrere.
Ob diese Gründe ausreichen, um anderswo ankommen zu dürfen oder Schutz zu finden, wird durch internationales Recht bestimmt und in aufwändigen Verfahren geklärt – wenn die Betroffenen überhaupt so weit kommen. Aber das ist die erste Perspektive, die man einnehmen sollte, und die man selbst in vergleichbarer Situation auch erhoffen würde: Die Perspektive derjenigen, die fliehen, die Betrachtung ihrer Situation und der Gründe, die sie zur Flucht bewegt haben. Wer politisch verfolgt ist, als religiöse Minderheit unterdrückt wird oder vor einem Bürgerkrieg flieht, hat ein Recht auf Hilfe. Mit anderen Worten: Es geht nicht nur um das, was zieht, sondern auch um das, was drückt. Wer von Pull-Faktoren spricht, muss auch die Push-Faktoren in den Blick nehmen.
Internationales Recht muss gelten
Niemand ist aufgerufen, eine Hilfe zu leisten, die seine Kräfte übersteigt, aber alle sind aufgerufen, zu tun, was sie können. Das nennt man Verantwortung. Wie weit sie übernommen wird, ist nicht alleine Sache derjenigen, die sich der Hilfe für andere verschrieben haben, oder derjenigen, die meinen, wenn jeder an sich denke, sei an alle gedacht. Es ist eine Frage, die demokratisch entschieden werden kann. Diese Entscheidungen können immer kritisiert werden, sie verdienen aber zunächst Respekt, ob es nun eine Stadt ist, die sich zum „sicheren Hafen“ erklärt und zusätzliche Geflüchtete aufnehmen will, oder ein Land, das die Aufnahme von Geflüchteten verweigert.
Es ist legitim, dass eine deutsche Bundesregierung einen Zielkorridor bestimmt, in welchem Umfang sie Aufnahme gewähren will, und dann auch durch mehr internationale Hilfe und Diplomatie versucht, Lebensbedingungen anderswo erträglicher zu machen und Fluchtgründe so zu mindern. Nicht legitim ist es, internationales Recht, zu dem man sich bekannt hat, zu brechen und beispielsweise wie im Falle Griechenlands im März 2020 das Asylrecht einfach auszusetzen.
Wer von Pull-Faktoren spricht, sagt damit ganz grundsätzlich, dass es Weltregionen gibt, die attraktiver sind als andere. Das ist unzweifelhaft so, auch wenn man darauf hinweisen muss, dass Menschen auch unter widrigsten Bedingungen dort zu leben bereit sind, wo sie ihre Heimat haben. Glück und Unglück sind per Geburt ungleich verteilt. Das muss man jedoch nicht einfach so hinnehmen. Jeder Mensch hat das Recht, zu versuchen, etwas aus seinem Leben zu machen, und je besser wir global dabei zusammenarbeiten, desto erfolgreicher werden wir dabei auch sein.
Durch Seenotrettung kommen nicht mehr Menschen
Wenn es Pull-Faktoren gibt, dann sind sie vor allem ein Auftrag, zu besseren Bedingungen für alle Menschen beizutragen, überall dort, wo Entwicklungsperspektiven fehlen. Dann bleiben immer noch die Notsituationen, in denen akut und schnell geholfen werden muss. Wenn nicht einmal das gelingt, muss man sich nicht wundern, wenn sich Menschen auf den Weg machen. Noch immer sterben weltweit fast sechs Millionen Kinder bevor sie das fünfte Lebensjahr erreichen, fast 16.000 Kinder am Tag, 700 Kinder pro Stunde, 11 Kinder pro Minute. Eine dreiviertel Milliarde Menschen hat keinen Zugang zu sauberem Wasser. Und ausgerechnet im September 2015 musste das Welternährungsprogramm Alarm schlagen, dass sie die Flüchtlinge in den Lagern um Syrien nicht mehr anständig versorgen können. Das sind alarmierende Nachrichten.
Die Vorstellung „Wenn wir mehr retten, dann werden noch mehr kommen” stimmt so nicht. Auch das hat sich auf dem Mittelmeer gezeigt. Denn zu Zeiten der italienischen Hilfsmission Mare Nostrum gingen Seenotrettung und Schleuserbekämpfung Hand in Hand. Die Zahl der übersetzenden Migrant*innen stieg eben nicht an, nur weil Hilfe in Seenot in Aussicht war. Im Gegenteil flachte die Kurve mit Beginn der Mission deutlich ab. Mehrere Studien belegen, dass Menschen unabhängig von der Anwesenheit von Rettungsschiffen übersetzen und beispielsweise die allgemeine Witterung einen viel größeren Einfluss auf ihre Entscheidung hat. Ganz generell lässt sich sagen, dass Flucht wie vieles im Leben auch eine Frage der Gelegenheit ist. Alte, Kranke, Behinderte, Arme schaffen es seltener, sich aus den Krisengebieten in Sicherheit zu bringen. Das verweist auf die eigentlichen, menschenrechtlich bedeutsamen Fragen.
Die gesunkenen Todeszahlen im Mittelmeer liegen nicht daran, dass weniger Menschen in Not wären, sondern daran dass sie in der Not, in überfüllten Lagern, Gefängnissen oder auf Sklavenmärkten festsitzen. Selbst wenn man an Pull-Faktoren glaubt, darf es nicht die Alternative sein, die Menschen im Elend zu belassen. Niemand lässt leichtfertig alles zurück und noch weniger leichtfertig riskiert jemand sein Leben. Humanitäre Korridore für Menschen auf der Flucht und mehr legale Wege der Einwanderung für Migrant*innen würden den Druck mindern, sich auf eine gefährliche und zu oft aussichtslose Reise zu begeben.
Fluchthilfe als Geschäftsmodell bekämpfen
Beratungsstrukturen und eine sachliche Gegenkommunikation zu den Verheißungen, die in sozialen Medien und von Schlepperorganisationen verbreitet werden, sind weitere Bausteine. Die Menschen müssen ihre Möglichkeiten kennen und die Konsequenzen einschätzen können. „Jeder Verfolgte, der überlebt hat, weiß, dass er nur durch die Hilfe anderer noch hier ist”, schreibt die Lyrikerin Hilde Domin über ihre eigene Flucht. Diese Hilfe zur Flucht ist ein Akt der Menschlichkeit. Davon unterschieden werden muss organisierte Kriminalität, die Fluchthilfe als Geschäftsmodell entdeckt hat, in dem das Schicksal der Geflüchteten letztlich egal ist. Diese muss konsequent bekämpft werden. Vor allem aber dürfen wir nicht nachlassen im Kampf um mehr Gerechtigkeit im globalen Maßstab. Immer, wenn jemand vor den Pull-Faktoren warnt, sollte man nach seinem Einsatz gegen die Push-Faktoren fragen. Oder am besten gleich eine Kasse aufstellen.
Die Strategie der Abschreckung ist eindeutig gescheitert. Es ist ein Irrglaube, man müsse die Bedingungen für die Menschen so schlecht wie möglich gestalten, damit sie bleiben wo sie sind. Die Bedingungen unter denen sie leben sind vielmehr schon so schlecht, dass die Flucht die einzige Perspektive bietet. Das Gegenteil ist richtig: Die Bedingungen müssen verbessert werden, in den Herkunftsländern, in den Ländern, durch die die Menschen durchreisen, und dort, wo sie ankommen. Nur so lindert man den Zwang zur fortgesetzten Weiterreise. Abschreckung ist keine Lösung, sie produziert nur weiteres Leid.
Griechenland behandelt die Geflüchteten so miserabel wie möglich, um weitere Flüchtlinge abzuschrecken. Die griechische Regierung sagt, dass es bald überall brennt, wenn man Brandstiftung mit Evakuierung belohnt. Ein Denkfehler mit katastrophalen Folgen: Wer Menschen einsperrt, ohne Perspektiven, Verfahren, Grundversorgung, legt selbst Feuer am System. Nur umgekehrt kann es funktionieren: überall für anständige Bedingungen sorgen, denn ohne Not wandert niemand einfach weiter. Das ist eine große Aufgabe, an der man immer wieder auch scheitern wird, die nie endet. Aber dass man nicht allen gleichzeitig helfen kann ist kein Argument, nicht dort zu helfen, wo Hilfe möglich ist.
Erschienen am 21. September im IPG-Journal