
Selbst ein derartiges Drama wie das Bootsunglück im Ärmelkanal mit dutzenden von Toten führt derzeit nur zu weiteren Spannungen zwischen London und Paris, statt zu gemeinsamer Trauer. Erst recht nicht zu gemeinsamem Handeln. Am Wochenende haben Frankreich, Belgien, die Niederlande und Deutschland dann – wohlgemerkt ohne Großbritannien - bei einem Krisentreffen zur Migration über den Ärmelkanal einen härteren Kampf gegen Schleuser vereinbart. Zudem soll ein Frontex-Flugzeug zur Luftüberwachung des Ärmelkanals eingesetzt werden, um einerseits Flüchtlinge von der lebensgefährlichen Fahrt über die Meerenge abzuschrecken, aber auch, um die überladenen und seeuntüchtigen Schlauchboote früher entdecken zu können und damit das Leben der Insassen zu retten.
Aber die französischen Gastgeber hatten zuvor die britische Innenministerin Priti Patel ausdrücklich von dem Treffen in Calais wieder ausgeladen. Ein diplomatischer Affront. Begründet wurde der Vorgang mit einem Brief, in dem Premierminister Boris Johnson öffentlich via Twitter Emmanuel Macron zur Rücknahme aller Migranten aufforderte.
Johnson veröffentlichte Brief an Macron
Johnson schrieb: Allein die Rücknahme von Migranten würde „die Überfahrten erheblich reduzieren – wenn nicht gar stoppen – und Tausende Menschenleben retten, indem sie das Geschäftsmodell der kriminellen Banden, die hinter dem Menschenhandel stehen, grundlegend stören“. Macron reagierte pikiert, man kommuniziere unter Präsidenten nicht auf Twitter. Um dann um so heftiger zurückzukeilen.
Seinen Regierungssprecher Gabriel Attal ließ Macron erklären, Form und Inhalt des Briefes seien inakzeptabel. Und überhaupt sei Macron es satt, dass Johnson seine Probleme nach außen verlagere. „Jedes Mal, wenn er ein Problem hat, meint er, Europa müsse das lösen – das funktioniert so nicht.“ Innenminister Darmanin legte nach, am allerschlimmsten sei, dass Johnson den Brief auch noch öffentlich gemacht habe, nur um dann seine britische Kollegin zu düpieren und auszuladen.
Unwürdiges Schwarze-Peter-Spiel
Ein zynisches Spiel: Grob geschätzt haben allein in diesem Jahr rund 25.000 Menschen den Versuch unternommen, den Kanal zu überqueren. Ein Drittel von ihnen hätte die französische Marine aus Seenot gerettet. Ansonsten weisen sich beide Staaten lediglich gegenseitig die Schuld zu.
Großbritannien erklärt, das Elend und die Toten zu einem französischen Problem, Paris müsse doch nur die hunderte Kilometer lange Seegrenze besser kontrollieren und dazu sämtliche Flüchtlinge zurücknehmen und das Problem wäre gelöst. Frankreich zeigt mit dem Finger zurück: Einmal auf der Insel angekommen, würde niemand mehr kontrolliert, sondern fände im Gegenteil sofort und von der britischen Regierung geduldet Arbeit zu Niedriglöhnen. Der Brexit habe einen gewaltigen Schwarzmarkt für billige Arbeitskräfte geschaffen und Großbritannien somit die Fluchtursachen selbst erzeugt. Obendrein verhindere London auch noch jedwede legale Einreise.
Lösung nur gemeinsam möglich
Beide Argumentationen sind nicht völlig aus der Luft gegriffen. Und gerade weil es nach dem Brexit keinen vollständig ausverhandelten und gültigen Grenzvertrag zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich gibt, wäre es umso notwendiger, miteinander zu reden statt sich gegenseitig anzugiften. Keine Seite kann das Problem allein und ohne die jeweils andere lösen.
Vor allem aber: Es geht nicht um verletzte Eitelkeiten oder innenpolitische und Wahlkampf-getriebene Profilierung zweier Präsidenten, sondern es geht um Menschenleben. Man kann sich kaum vorstellen, wie verzweifelt Menschen sein müssen, um im Dunkeln bei Temperaturen nahe dem Gefrierunkt in hoffnungslos überfüllten Schlauchbooten dreißig Kilometer über das offene Meer übersetzen zu wollen.
Das Geschäft der Menschenschmuggler
Aber statt Lösungen für die Menschen zu suchen, präsentieren mächtige Männer der Welt ein erbärmliches Schwarzer-Peter-Spiel auf dem Rücken der Flüchtlinge. Die EU schottet einerseits die eigenen Außengrenzen im Mittelmeer wie im Osten mit Zäunen zwischen Polen und Belarus ab und wundert sich andererseits, wenn Großbritannien das auch erwartet. - Es ist, mit Verlaub, die nämliche Doppelmoral.
Was Deutschland mit alledem zu schaffen hat? Ganz abgesehen davon, Werte wie Solidarität und Mitmenschlichkeit in der und für die EU zu verteidigen, das Folgende: Nach dem Untergang, der 27 Leben gekostet hat, verhafteten die französischen Behörden fünf mutmaßliche Menschenschmuggler. Mindestens einer der als Schleuser Verdächtigen kam nachweislich aus Deutschland. Sein Auto hatte deutsche Kennzeichen und auch die maroden Schlauchboote hatte er in Deutschland gekauft.
Kein Einzelfall. Die kriminelle Energie, sich an der Not Anderer zu bereichern, kennt keine nationalen Identitäten. Die ernsthaft zu bekämpfen, wäre eine vornehme Aufgabe für die neue Bundesregierung im Rahmen der EU.