Migration

Fluchten durch den Ärmelkanal: Warum London und Paris weiter streiten

Kay Walter29. November 2021
Harte Kritik an Großbritannien: Frankreichs Innenminister Gerald Darmanin am 28. November 2021 nach dem Treffen mit seinen EU-Amtskolleg*innen in Calais.
Harte Kritik an Großbritannien: Frankreichs Innenminister Gerald Darmanin am 28. November 2021 nach dem Treffen mit seinen EU-Amtskolleg*innen in Calais.
Nach dem tragischen Bootsunglück im Ärmelkanal, bei dem mindestens 27 Flüchtende zu Tode kamen, weisen sich Frankreich und Großbritannien weiter gegenseitig die Schuld zu. Ein Krisentreffen in Calais fand ohne die Briten statt.

Selbst ein derartiges Drama wie das Bootsunglück im Ärmelkanal mit dutzenden von Toten führt derzeit nur zu weiteren Spannungen zwischen London und Paris, statt zu gemeinsamer Trauer. Erst recht nicht zu gemeinsamem Handeln. Am Wochenende haben Frankreich, Belgien, die Niederlande und Deutschland dann – wohlgemerkt ohne Großbritannien - bei einem Krisentreffen zur Migration über den Ärmelkanal einen härteren Kampf gegen Schleuser vereinbart. Zudem soll ein Frontex-Flugzeug zur Luftüberwachung des Ärmelkanals eingesetzt werden, um einerseits Flüchtlinge von der lebensgefährlichen Fahrt über die Meerenge abzuschrecken, aber auch, um die überladenen und seeuntüchtigen Schlauchboote früher entdecken zu können und damit das Leben der Insassen zu retten.

Aber die französischen Gastgeber hatten zuvor die britische Innenministerin Priti Patel ausdrücklich von dem Treffen in Calais wieder ausgeladen. Ein diplomatischer Affront. Begründet wurde der Vorgang mit einem Brief, in dem Premierminister Boris Johnson öffentlich via Twitter Emmanuel Macron zur Rücknahme aller Migranten aufforderte.

Johnson veröffentlichte Brief an Macron

Johnson schrieb: Allein die Rücknahme von Migranten würde „die Überfahrten erheblich reduzieren – wenn nicht gar stoppen – und Tausende Menschenleben retten, indem sie das Geschäftsmodell der kriminellen Banden, die hinter dem Menschenhandel stehen, grundlegend stören“.  Macron reagierte pikiert, man kommuniziere unter Präsidenten nicht auf Twitter. Um dann um so heftiger zurückzukeilen.

Seinen Regierungssprecher Gabriel Attal ließ Macron erklären, Form und Inhalt des Briefes seien inakzeptabel. Und überhaupt sei Macron es satt, dass Johnson seine Probleme nach außen verlagere. „Jedes Mal, wenn er ein Problem hat, meint er, Europa müsse das lösen – das funktioniert so nicht.“ Innenminister Darmanin legte nach, am allerschlimmsten sei, dass Johnson den Brief auch noch öffentlich gemacht habe, nur um dann seine britische Kollegin zu düpieren und auszuladen.

Unwürdiges Schwarze-Peter-Spiel

Ein zynisches Spiel: Grob geschätzt haben allein in diesem Jahr rund 25.000 Menschen den Versuch unternommen, den Kanal zu überqueren. Ein Drittel von ihnen hätte die französische Marine aus Seenot gerettet. Ansonsten weisen sich beide Staaten lediglich gegenseitig die Schuld zu.

Großbritannien erklärt, das Elend und die Toten zu einem französischen Problem, Paris müsse doch nur die hunderte Kilometer lange Seegrenze besser kontrollieren und dazu sämtliche Flüchtlinge zurücknehmen und das Problem wäre gelöst. Frankreich zeigt mit dem Finger zurück: Einmal auf der Insel angekommen, würde niemand mehr kontrolliert, sondern fände im Gegenteil sofort und von der britischen Regierung geduldet Arbeit zu Niedriglöhnen. Der Brexit habe einen gewaltigen Schwarzmarkt für billige Arbeitskräfte geschaffen und Großbritannien somit die Fluchtursachen selbst erzeugt. Obendrein verhindere London auch noch jedwede legale Einreise.

Lösung nur gemeinsam möglich

Beide Argumentationen sind nicht völlig aus der Luft gegriffen. Und gerade weil es nach dem Brexit keinen vollständig ausverhandelten und gültigen Grenzvertrag zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich gibt, wäre es umso notwendiger, miteinander zu reden statt sich gegenseitig anzugiften. Keine Seite kann das Problem allein und ohne die jeweils andere lösen.

Vor allem aber: Es geht nicht um verletzte Eitelkeiten oder innenpolitische und Wahlkampf-getriebene Profilierung zweier Präsidenten, sondern es geht um Menschenleben. Man kann sich kaum vorstellen, wie verzweifelt Menschen sein müssen, um im Dunkeln bei Temperaturen nahe dem Gefrierunkt in hoffnungslos überfüllten Schlauchbooten dreißig Kilometer über das offene Meer übersetzen zu wollen. 

Das Geschäft der Menschenschmuggler

Aber statt Lösungen für die Menschen zu suchen, präsentieren mächtige Männer der Welt ein erbärmliches Schwarzer-Peter-Spiel auf dem Rücken der Flüchtlinge. Die EU schottet einerseits die eigenen Außengrenzen im Mittelmeer wie im Osten mit Zäunen zwischen Polen und Belarus ab und wundert sich andererseits, wenn Großbritannien das auch erwartet. - Es ist, mit Verlaub, die nämliche Doppelmoral.

Was Deutschland mit alledem zu schaffen hat? Ganz abgesehen davon, Werte wie Solidarität und Mitmenschlichkeit in der und für die EU zu verteidigen, das Folgende: Nach dem Untergang, der 27 Leben gekostet hat, verhafteten die französischen Behörden fünf mutmaßliche Menschenschmuggler. Mindestens einer der als Schleuser Verdächtigen kam nachweislich aus Deutschland. Sein Auto hatte deutsche Kennzeichen und auch die maroden Schlauchboote hatte er in Deutschland gekauft.

Kein Einzelfall. Die kriminelle Energie, sich an der Not Anderer zu bereichern, kennt keine nationalen Identitäten. Die ernsthaft zu bekämpfen, wäre eine vornehme Aufgabe für die neue Bundesregierung im Rahmen der EU.

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Kommentare

Von Frankreich aus muss niemand 'fliehen'.

Die Probleme mit Bürgern anderer Staaten [überwiegend Länder des vorderasiatischen, schwarzafrikanischen und arabischen Islamgürtels], die illegal in Sozialstaaten der EU oder Europas einreisen wollen, müssten schon früher gelöst werden, und zwar einerseits durch vernünftigen Grenzschutz und andererseits durch effektive Zurückweisung bzw. Ausschaffung. Hauptsächlich mitverursacht wurde diese immer noch anhaltende Völkerwanderung übrigens von der deutschen Bk Merkel und vielen NGOs in europäischen Ländern. Doch gerade in Deutschland will man nicht zur Vernunft kommen.

Flüchtlinge

Die europäische, deutsche Problematik beim Thema Flüchtlinge ist da. Diese kann nicht bestritten werden.
Aber - diese hat vielschichtige Ursachen. Von denen viele der 'Westen' / der 'Globale Norden' zu vertreten/zu verantworten hat.
WER ist WO WARUM militärisch einmarschiert - zur eigennützigen Sicherung von Energieressourcen; aus geostrategischen Vorherrschaftsgründen; zum Regierungswechsel im Sinne der einmarschierenden Macht?
Welche Fluchtbewegungen wurden dadurch ausgelöst? Wie viele Fluchtbewegungen haben ihre Ursache im Klimawandel und seinen Folgen - jetzt und in der Zukunft? Dabei ist zu bedenken, dass der Klimawandel weit überwiegend von den reichen Industriestaaten des 'Westens'/des 'Globalen Nordens' verursacht wird.
Zur Lösung des Fluchtproblems sind alle Verantwortlichen gemeinsam aufgerufen: Der 'Globale Norden', Europa und auch Deutschland. Und auch alle die Staaten selbst, die für die Vertreibungen im eigenen Land verantwortlich sind.

Eine Behandlung des Themas im Sinne von Herrn Elias Hallmoser mag "stammtischtauglich" sein - zielführend ist das aber nicht! Deutschland sollte nicht zur Vernunft im Sinne von Herrn Hallmoser kommen.