Film der Woche

Filmtipp „Plan A“: Sechs Millionen Tote für sechs Millionen Tote

Nils Michaelis10. Dezember 2021
Das Zentrum der Geschichte bildet Max (August Diehl): Als moralisches und psychisches Wrack kehrt der vormalige KZ-Insasse kurz nach Kriegsende zurück nach Deutschland.
Das Zentrum der Geschichte bildet Max (August Diehl): Als moralisches und psychisches Wrack kehrt der vormalige KZ-Insasse kurz nach Kriegsende zurück nach Deutschland.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges planen jüdische Holocaust-Überlebende einen Massenmord an Deutschen: Das Kinodrama „Plan A“ bringt ein erschütterndes historisches Kapitel ans Licht, stellt aber Fragen weit darüber hinaus.

Juden als Opfer, die sich während der NS-Zeit ohne Widerstand in ihr Schicksal fügten. Und die sich nach 1945 „geräuschlos“ mit den neuen Verhältnissen in Deutschland arrangierten: Dieses Bild prägte über Jahrzehnte das (deutsche) Bild vom Holocaust und seiner Nachgeschichte. Der jüdische Widerstand gegen die Mordmaschinerie blieb lange unterbelichtet. Erst recht die Racheakte von Menschen jüdischen Glaubens an Nazis nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

Das Kinodrama „Plan A“ beleuchtet ebendiese weithin unbekannte Geschichte der Vergeltung. Die Handlung beruht auf Tatsachen: Im Jahr 1945 plant eine Gruppe jüdischer Holocaust-Überlebender, die Trinkwassersysteme fünf großer deutscher Städte zu vergiften. Die Organisation Nakam (hebräisch für „Rache“) will Gift in die Wassersysteme schleusen und sechs Millionen Deutsche töten. Um Rache zu nehmen für sechs Millionen von den Nazis ermordete Juden.

Alles verwüstet in den Städten

Das Zentrum der Geschichte bildet Max (August Diehl). Als moralisches und psychisches Wrack kehrt der vormalige KZ-Insasse kurz nach Kriegsende zurück nach Deutschland: in ein innerlich wie äußerlich verwüstetes Land, das die eigenen Wunden nicht sehen will. Es geht allein darum, zu überleben. Auch für Max. Als es für ihn keine Hoffnung mehr gibt, Frau und Sohn wiederzufinden, schöpft er aus dem Drang, Rache zu nehmen, neue Kraft.

Was das konkret bedeutet, erfährt er im Schlepptau einer jüdischen Brigade aus Palästina. Unter britischem Oberbefehl jagen die Männer Nazi-Funktionäre und bringen sie zur Strecke. Von ganz anderer Dimension sind die Vergeltungspläne, mit denen ihn Mitglieder der Nakam in Nürnberg bekannt machen.

Gift soll durch die Wasserleitungen strömen und ein Zeichen der Vergeltung setzen. Von den bald beginnenden Nürnberger Prozessen gegen die Hauptkriegsverbrecher sei keine Gerechtigkeit zu erwarten, so ihr Kalkül. Max zieht mit und mischt sich unter die Arbeiter*innen, die das kriegszerstörte Wasserwerk wieder aufbauen. Doch der „Plan A“ wird ein Plan bleiben.

Ende des Schweigens

Grundlage des Films ist das Buch "Vengeance and Retribution Are Mine" von Dina Porat, der Chefhistorikerin der Gedenkstätte Yad Vashem. Der Autorin gelang es, die verbliebenen Mitglieder der Nakam zum Reden zu bringen. Nicht ohne Grund hatten sie sich lange in Schweigen gehüllt.

Auch die beiden israelischen Regisseure Doron und Yoav Paz erfuhren von ihren Angehörigen nichts über dieses Thema. Mit „Plan A“ wollen sie die Öffentlichkeit für jene historischen Ereignisse sensibilisieren, aber auch zeitlose Fragen zu Gerechtigkeit und Rache in den Raum stellen.

Gefährdete Gründung Israels

Die Massenmordpläne der Nakam entsprechen nicht dem Selbstbild Israels. Aus damaliger zionistischer Sicht gefährdeten sie die Gründung des jüdischen Staates. Das erklärt, dass die zionistisch-paramilitärische Organisation Hagana im Film zum wichtigsten Gegenspieler der über Deutschland verteilten Nakam-Zellen wird.

„Plan A“ bewegt sich, was historische Details betrifft, weitgehend auf der sicheren Seite. Irritierend ist die über weite Strecken etwas steife und sterile Atmosphäre. Dass Max und andere Überlebende des Holocausts Gefühle nicht immer zeigen können oder wollen, spiegelt ihre traumatischen Erfahrungen wider und entspricht den Gepflogenheiten einer Geheimorganisation. Und doch wäre an einigen Stellen zu wünschen, dass die Interaktion zwischen den tragenden Figuren, aber auch manche Figur an sich, lebendiger wäre.

Mit voller Wucht

Vor diesem Hintergrund sticht die darstellerische Leistung von August Diehl umso mehr hervor. Seine Interpretation von Trauer, Verzweiflung und einer von Rache und „Heimkehr“ erfüllten Todessehnsucht trifft uns mit voller Wucht und wird dennoch subtil verpackt. Diese Szenen setzen Maßstäbe. Ebenso wie Max – fast ausnahmslos folgt der Film seiner Perspektive – geistern auch wir anfangs orientierungslos durch das Nachkriegschaos.

Der, wenn wir so wollen, inneren Leere der Nakam-Aktivist*innen, aber auch vieler mit sich selbst beschäftigten „Normalbürger*innen“ und Nazi-Mitläufer*innen um sie herum, entsprechen die Bilder der Städte: Es gibt viel graue und düstere Ödnis zu sehen. Nürnberg: ein einziges Trümmerfeld, auch psychologisch betrachtet. Das stimmige Porträt einer Gesellschaft, das mit optischen Effekten sehr behutsam umgeht und gerade dadurch seine Wirkung nicht verfehlt.

Ist Rache richtig?

„Was hättest du getan?“, fragt der Film am Ende. Daran knüpft sich auch die Frage: Welche Rache ist die „richtige“ Rache? Lässt sich Gewalt mit Gewalt vergelten? Es sind Fragen, die nicht nur die Zeit des Holocaust betreffen. Max geht einen verschlungenen Weg, um eine Form der Vergeltung zu entdecken, die in die Zukunft weist.

Info: „Plan A“ (Deutschland/Israel 2021), ein Film von Doron und Yoav Paz, mit August Diehl, Sylvia Hoeks, Michael Aloni, Nikolai Kinski u.a., 109 Minuten, FSK ab 12 Jahre.

Im Kino

https://www.camino-film.com/filme/plan-a/

 

weiterführender Artikel