Film der Woche

Filmtipp „Holy Spider“: Thriller über Frauenmorde im Iran schockiert

Nils Michaelis13. Januar 2023
Bewegendes Frauenschicksal im Iran: Bei ihren Recherchen gerät Journalistin Rahimi (Zar Amir Ebrahimi) in große Gefahr.
Bewegendes Frauenschicksal im Iran: Bei ihren Recherchen gerät Journalistin Rahimi (Zar Amir Ebrahimi) in große Gefahr.
Eine Reihe von unaufgeklärten Morden an Prostituierten hält eine iranische Metropole in Atem: Der düstere Thriller „Holy Spider“ ist intensiv und packend. Er zeigt schonungslos, wie wenig Frauen im islamischen „Gottesstaat“ Iran wert sind.

Es wird Nacht in Maschhad. Eine junge Frau malt sich die Lippen an und geht auf die Straße, um anzuschaffen. Prostitution wird im Iran verdammt und bestraft. Und doch ist sie alltäglich. Auch in der zweitgrößten Stadt des Landes. Unweit des Imam-Reza-Schreins, einem weltbekannten Heiligtum des schiitischen Islams, drehen die Frauen ihre Runden.

Zur gleichen Zeit steigt ein Mann aufs Motorrad. Er wirkt wie einer der Kunden jener verzweifelten Frauen. Doch ihm geht es nicht um Sex. Er sucht den belebten Platz auf, um seine Mission zu erfüllen: die Straßen der heiligen Stadt von „ehrlosen Frauen“ zu „reinigen“. Wenig später gibt es eine weitere Tote.

Morden im Namen des Islam

Der gewaltsame Horror, den „Holy Spider“ entfaltet, hat einen realen Hintergrund. Kurz nach der Jahrtausendwende gab es in der Millionenstadt eine Serie von Morden an Prostituierten. 16 Frauen starben, bis der Täter gefasst war. Lange Zeit war unklar, ob jener Saeed Hanaei verurteilt wird. Seine Taten schienen dem konservativen Establishment gut in den Kram zu passen. Die Menschen jubelten ihm zu. Und doch wurde am Ende dem Strafrecht Geltung verschafft.

Im Zuge der Fiktionalisierung fügte Regisseur und Co-Drehbuchautor Ali Abbasi einen entscheidenden Erzählstrang hinzu. Die Journalistin Rahimi wird von ihrer Zeitung nach Maschhad geschickt, um die Mordserie aufzuklären. Rasch werden ihr Grenzen aufgezeigt. Aufreibend sind die Auseinandersetzungen mit Polizei und Justiz. Dennoch lässt sie sich nicht davon abhalten, den Mörder auf eigene Faust zu jagen. Wen wundert's, dass sie sich dabei in höchste Gefahr begibt.

Packende Atmosphäre

„Holy Spider“ bietet einiges, was man von einem Thriller über brutale Verbrechen erwartet: zum Beispiel ein düsteres Setting mit vielen hoffnungslosen Gestalten. Oder einen düsteren und wuchtigen Score, der die packende Atmosphäre unerwartet verstärkt.

Der im Iran aufgewachsene und später nach Schweden emigrierte Regisseur Ali Abbasi hatte allerdings keinen klassischen Serienkiller-Thriller im Sinn. Eher einen Thriller über eine Serienkiller-Gesellschaft. Somit ist einiges anders. Frühzeitig wird klar, wer hinter den Morden steckt. Das gewohnte „Wer war's?“-Spielchen bleibt aus. Zudem wird die kranke Seele des Mörders präzise und wohldosiert ausgelotet, anstatt ausgiebig in immer abstrusere Winkel vorzudringen.

Der Film macht deutlich, in welchem gesellschaftlichen Umfeld das lange Zeit unentdeckte Morden möglich ist. Und wie sich der Hass auf Frauen im Allgemeinen und auf Prostituierte im Speziellen quer durch die Gesellschaft zieht: bis hinein in die Familie des Serienkillers, der ein angesehener, wenn auch ungebildeter Bürger ist. Ihn treibt kein geschlossenes intellektuelles Konzept an. Religiöse Verblendung und psychische Deformationen eines Kriegsveteranen genügen.

Opfer haben eine Geschichte

Immer wieder bekommt Rahimi zu spüren, wie wenig Frauen in dieser von Männern dominierten Welt wert sind. Der Film erzählt auch vom permanenten Kampf der Journalistin um Selbstbehauptung. Diese kompromisslose Haltung und Rahimis Aufklärungsdrang bilden den entscheidenden Gegenpol zur Perspektive des mordenden Familienvaters. Dessen Opfer sind keine gesichtslosen Wesen, sondern treten uns als Persönlichkeiten mit einer Geschichte gegenüber. Auch das ist ein Statement: Wer die strangulierten Frauen waren, interessiert in der „heiligen Stadt“ niemanden. Das war schon bei dem realen Fall so.

Die Entstehungsgeschichte von „Holy Spider“ wäre einen eigenen Film wert. Dreharbeiten an Original-Schauplätzen waren unmöglich. Stattdessen wurde in Jordanien gedreht. Die iranischen Schauspieler*innen nahmen dafür ein hohes Risiko in Kauf. Hauptdarstellerin Zar Amir Ebrahimi hat am eigenen Leib erfahren, wie Frauen im Iran mittels einer verlogenen Moral drangsaliert werden. Anfang der 2000er-Jahre war sie ein gefeierter TV-Star. Nachdem ein privates Sex-Video geleakt worden war, floh sie nach Frankreich. Für ihre eindringliche Leistung in „Holy Spider“ wurde sie in Cannes als beste Darstellerin ausgezeichnet.

Schockierende Realität im Mullahstaat

Das Wissen um die Zustände im Mullahstaat tragen dazu bei, dass dieser Film den Zuschauenden immer wieder den Atem stocken lässt. Es ist aber auch ein schonungsloser, mit Elementen des Film Noir unterlegter Realismus, der auch vor quälend langen Gewaltszenen nicht zurückschreckt. Niemals steht der bloße Effekt im Vordergrund: Abbasi – sein Fantasyfilm „Border“ holte ebenfalls einen Preis bei den Filmfestspielen in Cannes – beherrscht das Spiel mit Genre-Stilmitteln, wenngleich die Handlung mitunter etwas zu geschmeidig ihren Lauf nimmt.

„Holy Spider“ zeigt vieles, was selbst das international geachtete iranische Arthouse-Kino wegen der drakonischen Zensur nicht zeigen kann. Auch deswegen gewinnen wir ein anderes Bild vom Iran. Ebenso drastisch wie kunstfertig wird uns vor Augen geführt, warum mit der Wut über die alltägliche Gewalt und Willkür gegenüber Frauen die gegenwärtigen Proteste im Iran ihren Anfang nahmen. Und warum es nicht zuletzt Frauen sind, die dort noch immer auf die Straße gehen.

Info: „Holy Spider" (Dänemark, Deutschland, Frankreich, Schweden 2022), ein Film von Ali Abbasi, Kamera: Nadim Carlsen, mit Zar Amir Ebrahimi, Mehdi Bajestani, Arash Ashitani, Forouzan Jamshidnejat, OmU, FSK ab 16 Jahre
117 Minuten
FSK 16
Im Kino
https://www.alamodefilm.de/kino/detail/holy-spider.html

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