Film der Woche

Filmtipp „Die Gewerkschafterin“: Isabelle Huppert gegen die Atomlobby

Nils Michaelis28. April 2023
Die Gewerkschaftsfunktionärin Maureen Kearny (Isabelle Huppert) klagt die französische Atomindutrie an und kämpft um den Erhalt von 50.000 Jobs.
Die Gewerkschaftsfunktionärin Maureen Kearny (Isabelle Huppert) klagt die französische Atomindutrie an und kämpft um den Erhalt von 50.000 Jobs.
Ganz allein nimmt sie es mit Frankreichs mächtiger Atomlobby auf: In dem hochpolitischen Thriller „Die Gewerkschafterin” spielt Isabelle Huppert eine Frau, die vom Opfer zur Verdächtigen wird. Schockierend – und absolut sehenswert.

Ganz allein nimmt sie es mit Frankreichs Atomlobby auf: Der Thriller „Die Gewerkschafterin“ erzählt von Maureen Kearney (Isabelle Huppert), die vom Opfer zur Verdächtigen wird - doch warum?

Man stelle sich vor: Die oberste Gewerkschaftsfunktionärin eines halbstaatlichen Konzerns bekommt Wind davon, dass das Unternehmen zerschlagen werden soll. Um gut 50.000 Jobs zu retten, kämpft sie darum, die im Verborgenen ablaufenden Machenschaften ans Licht zu bringen und zu stoppen. Es wird versucht, sie zum Schweigen zu bringen.

Im eigenen Zuhause überfallen und misshandelt

Anstatt öffentliche Unterstützung zu erfahren, wird diese Frau angefeindet. Oder ignoriert. Weil sie sich verdächtig gemacht hat.Klingt unglaublich? Der französisch-deutsche Thriller „Die Gewerkschafterin“ beruht auf wahren Gegebenheiten, die die Journalistin Caroline Michel-Aguirre in ihrem Buch „La syndicaliste“ publik gemacht hat. Es erzählt ein dramatisches Kapitel aus dem Leben der Gewerkschafterin Maureen Kearney.

Mit ihren Aktivitäten gefährdete sie einen China-Deal des französischen Atomkonzerns Areva. In ihrem Zuhause wurde sie überfallen und sexuell misshandelt. Die Täter*innen wurden nie ermittelt. Und es sollte sich zeigen, dass die Befürchtungen zur Zukunft des Reaktorbauers berechtigt waren. Der Film von Jean-Paul Salomé rollt diese Geschichte aus der Perspektive der Protagonistin auf.

Das gut zweistündige Werk macht fassungslos. Nicht nur wegen der obszönen Gewalt, sondern auch wegen der unzähligen Momente, die den Machtmissbrauch und den Chauvinismus in jenen Strukturen offenlegen, mit denen die von Isabelle Huppert gespielte Maureen Kearney die Konfrontation sucht. Gemeint ist die politische und wirtschaftliche Elite in Frankreich.

Schmutzkampagne gegen das Opfer

Und wegen der Einsamkeit, die immer größer wird, als selbst diejenigen auf Tauchstation gehen, die der Chefin der Arbeitnehmer*innenvertretung von Areva zur Seite stehen müssten. Den Kopf blickdicht vermummt und an Händen und Fußen gefesselt. Auf dem Bauch ein blutiger Buchstabe, eingeritzt mit einem Messer. Der Griff des Messers steckt in der Vagina.

So finden Polizist*innen Maureen Kearny eines Morgens auf einem Stuhl im Keller. Eigentlich hätte sie an diesem Morgen den französischen Präsidenten treffen sollen. Das sollte offensichtlich verhindert werden. Doch die Polizei ermittelt in eine ganz andere Richtung: Hat das Opfer das Ganze vorgetäuscht? Ist die penetrante Gewerkschaftstante nicht ohnehin durchgeknallt?

Eine von vielen Seiten befeuerte Schmutzkampagne nimmt ihren Lauf. Jean-Paul Salomé greift die Vor- und Nachgeschichte des Martyriums in Kearnys Wohnhaus in einem Pariser Vorort auf. Die größeren politischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge geraten schon nach kurzer Zeit aus dem Fokus. Im Mittelpunkt steht die psychologische Ebene: der verzweifelte, mit vielerlei Wendungen versehene Kampf der Protagonistin um die Wahrheit.

Undurchsichtiges Dickicht aus Drohungen und Alpträumen

Doch was ist in diesem undurchsichtigen Dickicht aus Drohungen, Ängsten und Albträumen die Wahrheit? Nicht nur die Hauptfigur, auch die Zuschauenden verlieren irgendwann den Überblick. „Die Gewerkschafterin“ dreht sich nicht nur um den einsamen Kampf einer Frau gegen mächtige und skrupellose Männer. Wir erleben auch eine Person, die trotz ihrer Bildung die einfachen Verhältnisse, aus denen sie stammt, nicht abgelegt hat und im Establishment längst nicht angekommen ist.

Immer kämpfen und bloß kein Opfer sein, auch wenn dieser Anspruch nicht immer erfüllt wird: Ihr Drang nach Selbstbehauptung ist die Haltung eines Underdogs. Die Schutzrüstung der gebürtigen Irin sind markante Brillen, auffälliger Schmuck und starkes Make-up. Was sie unterstreicht, als sie sich unmittelbar nach einer verstörenden Untersuchung die Lippen schminkt.

Für diese Rolle einer ebenso energischen wie zerbrechlichen und sowohl mutigen als auch verängstigten, mitunter aber auch undurchsichtigen Frau erweist sich Isabelle Huppert als ideale Besetzung. Ihre Figur vereint viele Gegensätze in sich, durchlebt extreme Erfahrungen und erscheint nicht nur, aber gerade auch als Mutter und Ehefrau dennoch sehr alltagsnah.

Nationales Heiligtum

Die feinen Nuancen in Hupperts zurückgenommenem und doch sehr wirkungsvollen Spiel kommen auch deswegen besonders gut zur Geltung, weil der Film trotz seines aufwühlenden Themas sehr unaufgeregt und mit einem ruhigen Erzählfluss inszeniert wurde. Mitunter kommen Erinnerungen an die spröde Tonalität eines Claude Chabrol auf.

Offenkundig ließ sich Jean-Paul Salomé, der mit Isabel Huppert zuvor für „Eine Frau mit berauschenden Talenten“ zusammengearbeitet hat, von klassischen Politthrillern aus Italien und den USA inspirieren. Auch „Die Gewerkschafterin“ ist hochpolitisch und brisant, wenn auch weniger im Sinne einer alles umwälzenden Enthüllung. Das, was Maureen Kernay widerfahren ist und uns hier mit wohldosierter Spannung vor Augen geführt wird, kratzt mächtig am Image eines französischen Heiligtums, der Atomindustrie. Die subtil herausgearbeiteten Mechanismen weisen allerdings weit darüber hinaus. 

Info: „Die Gewerkschafterin“ (Frankreich, Deutschland 2022), Regie: Jean-Paul Salomé, Drehbuch: Jean-Paul Salomé und Fadette Drouard nach dem Roman „La Syndicaliste“ von Caroline Michel-Aguirre, mit Isabelle Huppert, Grégory Gadebois, Marina Foïs, Yvan Attal u. a., 122 Minuten, ab 16 Jahren.

https://www.weltkino.de/filme/die-gewerkschafterin

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