Unabhängig durch Sexarbeit

Filmtipp: Warum für Frauen ein Leben im Abseits Freiheit bedeuten kann

07. Januar 2022
Für ihr freies Leben zahlen Odile und Farida einen hohen Preis.
Für ihr freies Leben zahlen Odile und Farida einen hohen Preis.
Sie verkaufen ihren Körper, um in einer patriarchalischen Gesellschaft ihren Weg zu gehen: Der Film „Garderie Nocturne“ erzählt von lichten und dunklen Seiten im Leben von Prostituierten in Westafrika und dem Wunsch nach Nähe und Gemeinschaft.

Es wird Nacht in Bobo-Dioulasso, der zweitgrößten Stadt von Burkina Faso. Odile kämmt ihre grelle rote Perücke und singt vor sich hin. Gleich fährt sie zur Arbeit. Vorher gibt sie ihre kleine Tochter Djénéba, die sich müde auf dem Bett räkelt, bei Frau Coda ab. Die alte Dame nimmt die Kinder von Odile und anderen Sexarbeiterinnen bis zum Morgen in Obhut. Ohne sie wären die jungen Frauen aufgeschmissen und könnten dieses Leben, das sie gewählt haben, nicht führen.

Für Odile bedeutet dieses Leben Freiheit. Jedenfalls die Freiheit, nicht mit einem Mann Tisch und Bett zu teilen, den sie nicht liebt. Stattdessen lebt sie mit zwei Freundinnen, die sich ebenfalls prostituieren, und ihren Kindern in einem kleinen Haus am Stadtrand.

Wirtschaftliche Freiheit statt arrangierter Ehe

Zumindest in den Städten des westafrikanischen Landes, das vorwiegend arrangierte Ehen kennt, sind solche Freiräume mittlerweile möglich. Dafür nehmen die unverheiratreten und von ihren Familien entfremdeteten Frauen in Kauf, Nacht für Nacht zwischen Bars und Imbissständen nach Kunden für bezahlten Sex zu suchen. Wirtschaftlich auf eigenen Füßen zu stehen, hat für Odile und Co. oberste Priorität. Woanders einen Job zu finden, ist für sie so gut wie unmöglich.

In seinem Langfilmdebüt begleitet Regisseur Moumouni Sanou, der ebenfalls in Bobo-Dioulasso lebt, Odile und ihre Mitstreiterinnen durch den Alltag. Die freien Stunden sind davon geprägt, sich über die Erfahrungen der vergangenen Nacht auszutauschen und sich auf die nächste vorzubereiten. Ein Leben im Schwebezustand.

Und doch ist der Tag nicht gänzlich auf die Nacht ausgerichtet. Es gibt eine Routine, die viele mit einem geregelten Familienleben verbinden: Kinder werden gebadet, angezogen und gefüttert. Keine Idylle, aber eine Sphäre von Ruhe, Solidarität und Verlässlichkeit. Frau Coda, in deren kinderreiches Heim die Kamera immer wieder zurückkehrt, ist Teil dieses solidarischen Netzwerks, auch wenn es dabei um ein Geschäft geht.

Wunsch nach Anerkennung und Toleranz

Vielen Menschen in der Umgebung ist Odiles Wohngemeinschaft, die mit konservativen Konventionen bricht, suspekt. Die Frauen werden angefeindet. Mit seinem Dokumentarfilm wirbt der 1987 geborene Sanou um Anerkennung für (oder zumindest Toleranz gegenüber) diese Frauen, die einen eigenen Weg gehen wollen, der von vielen nicht verstanden wird und für wildeste Gerüchte sorgt.

Abgesehen vom stetigen Wechsel zwischen der häuslichen Routine bei Tag und dem nächtlichen Leben auf den spärlich beleuchteten Straßen folgt die Erzählung keiner erkennbaren Dramaturgie. Sanou konzentriert sich darauf, seine Protagonistinnen sensibel und präzise zu beobachten. Immer wieder fängt er intime Momente des Mutterseins, aber auch der Vertrautheit unter den Mitbewohnerinnen ein.

Gerne würde man mehr über das Vorleben von Odile und den anderen erfahren. Um sich ein Bild von diesen Menschen am Rand der Gesellschaft zu machen, sind Zuschauende auf ihr Agieren und auf Gesprächsfetzen angewiesen. Das ist ein bisschen wenig, um uns die Menschen als Individuum wirklich nahezubringen.

Nicht jeder hat gleich den im Internet kursierenden Regiekommentar zur Hand. Darin beschreibt Sanou ausführlich, welche Schicksalsschläge und welche persönlichen Entscheidungen Odile und die anderen in ihr bescheidenes Häuschen und die Sexarbeit geführt haben. In ein Leben, das keine von ihnen verklärt. Vielmehr träumen sie davon, es zu überwinden. Natürlich, ohne dabei die erreichten Freiheiten einzubüßen.

Intensive Wirkung trotz Lücken in der Erzählung

Jenseits dieser unterbelichteten Ebene des Wissens entfaltet der Film dennoch eine intensive Wirkung, zumal auf emotionaler und atmospärischer Ebene. Sanou schaut auf Menschen im Abseits, die auf ihre Weise „mittendrin“ sind und ökonomisch vergleichsweise gut dastehen.

In dieser in vielerlei Hinsicht mehr als prekären Lebenswelt, nicht zuletzt bei Frau Coda und der Kinderschar, gibt es immer wieder Momente von Nähe, Freude und Humor. Der Wille zur Selbstbehauptung ist stets spürbar. Dass und wie sich diese Menschen vor der Kamera öffnen, zeugt von der über Jahre gewachsenen Vertrautheit zwischen Team und Auftretenden.

„Garderie Nocturne“ ist ein überraschender Blick auf selbstbewusste Frauen in einem Land, das ihnen die Selbstbestimmung oft verweigert. Und auf einen Mikrokosmos, in dem Männer allenfalls in hämischen oder auch verbitterten Erzählungen vorkommen.

Garderie Nocturne - Night Nursery (Burkina Faso/Frankreich /Deutschland 2021), ein Film von Moumouni Sanou, mit Odile Kambou, Farida Tiendrebeogo u.a.

Im Kino.

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