
Seit Pfarrer Robi die Messe liest, ist die Kirche in der kleinen ungarischen Grenzgemeinde voll. Auch über kirchliche Dinge hinaus hat der junge Geistliche dem abgelegenen Dorf neues Leben eingehaucht. Man findet ihn überall, auch auf dem Fußballplatz. Ein wahrer Hüter seiner Schäfchen.
Ahnen die Menschen, die sich um diesen zugewandten und quirligen Vertreter der Amtskirche scharen, dass an ihm etwas nagt?
Vor vielen Jahren hat sich Robi unsterblich in Anka verliebt. Drei Kinder gingen aus der Beziehung hervor. Der Pflichtzölibat macht es Robi unmöglich, sich offen zu seiner Familie zu bekennen. Je älter die Kinder werden, desto mehr führt das Leben mit einem Vater, der abends heimlich für ein paar Stunden vorbeischaut, alle Beteiligten an ihre Grenzen.
Nicht zuletzt Robi. Er muss sich entscheiden, ob er sich als Familienvater outet und sein Priesterideal verrät oder so weitermacht wie bisher und damit sich und seinen Lieben schadet. Im Grunde ist es nur die neue Stufe für ein Dilemma, das ihn verfolgt, seit das Verhältnis mit Anka seinen Anfang nahm.
Das Zölibat: Symbol der Krise
Die erzwungene Ehe- und Familienlosigkeit gilt als zentrale Ursache für den Priestermangel in der katholischen Kirche. Das haben inzwischen auch führende deutsche Kirchenhirten eingesehen. Zum Beispiel Kardinal Reinhard Marx, der sich vor einigen Monaten für die Abschaffung des Pflichtzölibats ausgesprochen hat. Es sieht allerdings nicht danach aus, dass derlei Forderungen irgendwelche Konsequenzen nach sich ziehen würden.
Der ewige Konflikt, der in dem doppeldeutigen Titel der ungarischen Produktion zum Ausdruck kommt, wird wohl auch weiterhin viele Priester plagen.
„Vater Unser“ fängt so ein Leben aus nächster Nähe und in sehr privaten Momenten ein. Häufig sind es Szenen wie aus einer „ganz normalen“ Familie. Oftmals verraten Details, was es heißt, ein Leben mit einem heimlichen Vater zu führen. Zum Beispiel, wenn sich die Kinder über „Papas Arbeit“ unterhalten oder ein gemeinsamer Spaziergang durchs Dorf ansteht.
Durch einen Zufall waren die ungarischen Filmschaffenden Julianna Ugrin und Márton Vizkelety auf Robis „Fall“ gestoßen. Die Familie steht für zahllose andere katholische „Priesterfamilien“, nicht nur in Ungarn. Die konservative Gesellschaft auf dem Land und die Amtskirche haben sich längst damit abgefunden. Natürlich nur, solange niemand das Geheimnis lüftet.
Robi hadert nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit diesem verlogenen gesellschaftlichen Konsens. Über mehrere Jahre verfolgt „Vater Unser“ seine innere Entwicklung, die unausweichlich auf ein klares Bekenntnis hinausläuft: Kirche oder Familie? Am Ende steht eine überraschende Wendung, die zugleich eine konsequente Fortsetzung des bisheriges Weges bedeutet.
Von „Die Dornenvögel“ bis heute
Robis Geschichte ist symptomatisch für die umfassende Legitimationskrise der katholischen Kirche und ihrer Traditionen. In Literatur und Film wurden die damit verbundenen menschlichen Dramen zahllose Male aufgegriffen, besonders massentauglich in dem TV-Melodram „Die Dornenvögel“. Bis heute rührt das schwülstige Werk aus den 80er-Jahren viele Herzen.
Von dem interpretatorischen und größeren gesellschaftspolitischen Kontext ist „Vater Unser“ weitgehend losgelöst. Der Film beschränkt sich ganz auf Robis Mikrokosmos. Gerade das macht ihn so berührend. Wir werden Zeuge eines Doppellebens, das von der rührenden Hingabe für eine Dorfgemeinschaft, die sich lange Zeit abgehängt gefühlt hat, erfüllt ist. Und zugleich von der tiefen Liebe für Frau und Kinder.
Die Hingabe als Priester wird begleitet von einer Lüge, die dem Gros der Gemeindemitglieder bewusst sein dürfte. Womöglich ist die Lüge für Robi sogar ein Antrieb, sich umso mehr für das Dorf und seine Menschen ins Zeug zu legen.
Porträt eines zerrissenen Idealisten
Wie wird die Kirchenführung reagieren, sollte sich Robi offenbaren? Und kann er sich danach noch in seiner Gemeinde blicken lassen? Derlei Fragen schwingen in diesem Porträt eines Idealisten, der keines seiner Ideale verraten möchte und es dennoch jeden Tag aufs Neue tut, stets mit. Die sehr nüchterne, auf einen dokumentarischen Realismus setzende und psychologische Dimensionen präzise auslotende Erzählweise bringt uns dieses Drama sehr nahe.
Mit einer zutiefst menschlichen Grundhaltung blickt „Vater Unser“ hinter eine Fassade aus Lügen, deren Ursprung eine Lebenslüge ist. Mehr kann ein Dokumentarfilm kaum leisten.
„Vater Unser“ (Ungarn 2021), ein Film von Julianna Ugrin und Márton Vizkelety, 80 Minuten, OmU.