
London – Klare Brexit-Strategie, bitte!
von Christos Katsioulis
Die Irrungen und Wirrungen des Brexit überschatteten die Europawahlen in Großbritannien. Niemand im Land hat sich dafür interessiert, welche Abgeordneten man über den Kanal entsenden wird. Stattdessen dominierten Fragen der nationalen Politik. Nach dem angekündigten Rücktritt von Theresa May beginnt der Nachfolgekampf, Neuwahlen sind sehr wahrscheinlich. Der Brexit ist weiterhin ungelöst und die gesellschaftlichen Gräben sind tiefer als zuvor.
33 Prozent für Farage
Der Wahlerfolg von Farage und der Brexitpartei mit 33 Prozent wird die Tories tiefer ins Territorium der harten Brexiteers treiben. Sie haben mit lediglich neun Prozent auf Rang fünf abgeschlossen. Es dominiert die Furcht, von Farage rechts überholt zu werden. Sie werden ihre Hoffnungen auf Boris Johnson richten. Dem Brexiteer der frühen Stunde wird als einzigem Konservativen zugetraut, Farage in Schach zu halten. Der Preis dafür wird eine zunehmend rechtspopulistische Positionierung der Tories werden. Der ehemals moderat konservative Flügel, repräsentiert von David Cameron, wird weiter ins Hintertreffen geraten.
Auf der anderen Seite ist Labour mit einem Dilemma konfrontiert: Die schwammige Brexithaltung hat die Partei mit weniger als 15 Prozent auf Rang drei hinter die Liberaldemokraten (fast 21 Prozent) gebracht. Sie hat dazu geführt, dass der Nimbus von Corbyn angekratzt ist. Er hat eine Wahl verloren, gerade weil er wie ein „normaler Politiker“ agiert hat.
Corbyn unter Druck
Die Proteststimmen sind bei Farage gelandet und viele der jungen Unterstützer von Corbyn haben sich den eindeutigen Remain-Parteien wie den Grünen (12,5 Prozent) oder den Liberaldemokraten zugewandt. Damit tut sich ein Riss zwischen Corbyn und vielen seiner enthusiastischen Unterstützern auf. Denn in der Frage „Wie hältst Du es mit Europa“ vertreten sie eine fundamental andere Haltung. Das kann die Dynamik der Labourpartei in künftigen Wahlkämpfen dämpfen. Die Europafrage wird aber gleichzeitig auch die soziale und ökonomische Agenda von Corbyn überschatten. Intern wächst der Druck, sich deutlich für ein zweites Referendum auszusprechen oder gar eine eindeutige Remain-Haltung einzunehmen.
Damit hat die Europawahl nur neue politische Ungewissheiten geschaffen, obwohl jeder der Beteiligten die Ergebnisse so liest, wie er es gerne hätte. Die beiden sich zunehmend unversöhnlich gegenüberstehenden Lager von Leave und Remain haben in der Summe fast gleich abgeschnitten. Die alten Parteien der politischen Mitte, Tories und Labour, haben an beide Seiten verloren und geraten zunehmend unter Druck.
Stockholm – Herbe Verluste bei den Grünen
von Dietmar Dirmoser
Die Wahlbeteiligung in Schweden erreichte mit 53,2 Prozent den höchsten Stand seit dem Beitritt im Jahr 1995 und lag einmal mehr über dem EU-Durchschnitt. Zurückzuführen ist das auf eine zunehmend positive Einstellung der Schweden zur EU. Eine kontinuierlich wachsende Mehrheit sieht positive Auswirkungen der Mitgliedschaft bei der militärischen Sicherheit sowie in Wirtschafts- und Umweltfragen. Seit dem Brexit hat die Zustimmung zur EU nocheinmal einen Schub bekommen. Die Europa ablehnenden Parteien (insbesondere die Rechtspopulisten und die Linkspartei) haben sich dem Meinungsklima angepasst und ihre Positionen erheblich abgemildert.
Sozialdemokratie bleibt stärkste Partei
Die großen gesamteuropäischen Trends haben die schwedischen Wähler bestenfalls verhalten bedient. Die regierende Sozialdemokratie blieb mit 23,5 Prozent stärkste Partei und verlor gegenüber 2014 nur 0,7 Prozent. Die beiden der EVP-Fraktion angehörenden Parteien – die Moderaten und die Christdemokraten – erreichten 16,8 Prozent beziehungsweise 8,7 Prozent, das sind drei beziehungsweise 2,8 Prozent mehr als bei der letzten Europawahl. Zugelegt haben neben dem Zentrum, einer der beiden liberalen Parteien, die der ALDE-Fraktion angehören, auch die rechtspopulistischen Schwedendemokraten (+5,7 Prozent). Ihr Ergebnis (15,4 Prozent) blieb jedoch hinter den Prognosen zurück. Sie landeten auf dem dritten Platz, verloren aber gegenüber den schwedischen Parlamentswahlen im September vergangenen Jahres 2,1 Prozent.
Thema Klima ohne zentrale Rolle
Nennenswerte Verluste erlitten nur zwei Parteien. Die Liberalen, die sich als die konsequentesten Pro-Europäer zu stilisieren versuchten und im Wahlkampf Werbung für Atomenergie machten, verloren 5,8 Prozentpunkte und erreichten nur knapp das Quorum von vier Prozent. Gegen den gesamteuropäischen Trend verzeichneten auch die an der aktuellen Minderheitsregierung beteiligten Grünen herbe Verluste: Mit vier Prozent weniger als 2014 kamen sie auf 11,4 Prozent und mussten zwei ihrer vier Sitze im Europaparlament abgeben. Just in dem Land, in dem die internationale Bewegung gegen die vorherrschende Klimapolitik ihren Ausgang nahm, spielte das Klimathema offenkundig keine zentrale Rolle. Dass die rot-grüne Regierung auf dem besten Wege ist, ihre hochgesteckten Klimaziele zu verfehlen, hatte nur geringfügige Auswirkungen auf das Wahlergebnis.
Die Auseinandersetzungen im Wahlkampf lieferten weitere Belege für die Kooperation zwischen der rot-grünen Regierung und den beiden liberalen Parteien in klarer Frontstellung gegen den Rechtspopulismus und konservative Positionen der Moderaten und der Christdemokraten.
Beide Beiträge erschienen im ipg-journal, einer Debattenplattform für Fragen internationaler und europäischer Politik.