
Mit Russland verbinden uns nicht nur die geographische Nähe, sondern auch vielfältige historische, kulturelle und wirtschaftliche Beziehungen. Beim Blick zurück schauen wir in furchtbare Abgründe wie den Vernichtungskrieg der Nazis im östlichen Europa aber auch auf Höhen verlässlicher Zusammenarbeit in Handel, Kultur und Wissenschaft. Derweil ist das Verhältnis der Europäischen Union und Deutschlands mit dem östlichen Nachbarn schwer belastet. Die „Russland-Frage“ schürt heftige Emotionen. Die Debatte über den richtigen Umgang mit Moskau polarisiert und spaltet. Auch die SPD ringt um den richtigen Kurs, fühlt sie sich doch aus guten Gründen der Entspannungspolitik von Willy Brandt verpflichtet. Schließlich hat das Prinzip „Wandel durch Annäherung“ unsere Welt friedlicher gemacht und einen unverzichtbaren Beitrag zur Einigung Deutschlands und Europas geleistet.
Putin setzt auf Gewalt und Gegnerschaft zum Westen
Präsident Wladimir Putin ist immer öfter bereit, außenpolitische Ziele auch mit Gewalt zu erreichen. Dabei definiert sich Russland immer mehr in Abgrenzung und teilweise in Gegnerschaft zum Westen. An diesen Realitäten müssen wir uns bei unserer Russlandpolitik orientieren. Wer heute über die internationalen Sanktionen reden möchte, muss zunächst dorthin blicken, wo sie ihren Ursprung haben: auf die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und den gewaltsamen Konflikt in der Ostukraine. Nicht Deutschland alleine, sondern die EU mit weiteren internationalen Partnern haben mit den Sanktionen eine Antwort gegeben. Sie sind ein Signal, dass die EU die russische Aggression gegen die Ukraine nicht tatenlos hinnehmen darf. Wir müssen versuchen, weitere Aggressionen zu verhindern. So haben Sanktionen 2014 maßgeblich zur Deeskalation der Lage im Osten der Ukraine beigetragen. Ihren Abbau hat die EU an klare Bedingungen geknüpft: die Umsetzung der Minsker Vereinbarung von Februar 2015.
In einer der friedlichen Konfliktbeilegung verpflichteten Außenpolitik sind Sanktionen als Bestandteil unseres diplomatischen Instrumentenkastens ein wichtiges Druckmittel, mit dem wir eine Verhaltensänderung der anderen Seite erreichen wollen. Indes gibt es bei Sanktionen selbstverständlich keine Erfolgsgarantie. Zudem wirken sie langfristig, man braucht also einen langen Atem. Voraussetzung für jeden Fortschritt ist die Einigkeit der EU in dieser Frage. Denn nur so können wir wirksam Druck gegenüber Russland aufbauen.
Sanktionen sollen Moskau zu Verhandlungen bewegen
Die gegen Russland verhängten Sanktionen sind also kein Selbstzweck, keine irrationale Bestrafung. Und sie schließen Dialog und Zusammenarbeit mitnichten aus. Ganz im Gegenteil, sie sollen die Führung in Moskau dazu bewegen, mit uns gemeinsam am Verhandlungstisch wieder an vernünftigen Lösungen zu arbeiten. Dabei verlangen sie einer Reihe von EU-Staaten wirtschaftlich und politisch ungleich mehr ab als Deutschland. Man darf daher zu Recht von uns – als größtem Profiteur eines vereinten Europas – erwarten, dass wir uns an einmütig getroffene Entscheidungen der EU und weiterer Alliierter halten und sie entsprechend vertreten.
Ein europäischer Kurs der Entschlossenheit und Geschlossenheit gegenüber Russland ist auf ehrlichen Dialog angewiesen. Viele internationale Probleme lassen sich nur gemeinsam mit Russland lösen. Dies gilt für den Erhalt und die Stärkung von Rüstungskontrollvereinbarungen, für die Beilegung der Konflikte in der Ukraine und in Syrien, aber auch für globale Bewährungsproben wie die Bekämpfung des Klimawandels. Wir brauchen verlässliche, funktionierende und belastbare Dialogkanäle. Deshalb müssen wir Formate wie den EU-Russland-Gipfel, den NATO-Russland-Rat oder die OSZE wieder stärker beleben.
Dialog auf allen Ebenen bleibt nötig
Die EU und Deutschland haben daher ein strategisches Interesse daran, den politischen Dialog mit Moskau zu pflegen und auf allen Ebenen weiter auszubauen. Nur so ist es möglich, verloren gegangenes Vertrauen wieder aufzubauen. Dabei ist klar: Der Dialog darf sich nicht allein auf die Repräsentantinnen und Repräsentanten von Staat und Politik beschränken. Wir müssen vor allem bei der Zivilgesellschaft ansetzen. Mir kommt bei der „realpolitischen“ Betrachtung Russlands die innenpolitische Lage von kritischen Geistern, Künstlerinnen, Journalistinnen und Menschenrechtsaktivisten viel zu kurz. Sie verdienen insbesondere von uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten konkrete und sichtbare Solidarität. Die aktive Förderung und bessere Zusammenarbeit in Kultur, Wissenschaft, Sport und Medien ist besonders wichtig. Dem Jugendaustausch kommt dabei eine herausragende Bedeutung zu. Junge Menschen sind die Brückenbauerinnen und Brückenbauer der Zukunft. Politische Differenzen sollten nicht dazu führen, dass sich die Menschen beider Länder entfremden!
Die bipolare Welt aus den Zeiten Willy Brandts und Egon Bahrs ist Geschichte. Eine neue, stabile Weltordnung ist derzeit nicht in Sicht. Die sozialdemokratisch geprägte Ostpolitik wollte das Leben von Menschen spürbar verbessern, war Frieden, Versöhnung und Stabilität verpflichtet. Der Schlüssel zur Lösung drängender Probleme lag damals in der Sowjetunion. Ohne das grüne Licht aus Moskau wären beispielsweise Reiseerleichterungen für Bürgerinnen und Bürger der DDR schlicht nicht möglich gewesen. Diese Entspannungspolitik entsprang dem „Kalten Krieg“ und half, ihn zu überwinden. Den Warschauer Pakt und die Sowjetunion gibt es nicht mehr. Heute müssen wir unsere Ostpolitik neu denken und weiterentwickeln. Das schließt den Umgang mit unserem größten Nachbarn ein, geht aber weit darüber hinaus. Denn zu einer europäischen Ostpolitik des 21. Jahrhunderts gehören eben nicht nur Russland, sondern auch die osteuropäischen Staaten, viele davon waren selbst Teil des Hegemons Sowjetunion oder wurden von ihr beherrscht. Ihre Perzeptionen, Sorgen und Ängste müssen wir ernster nehmen und besser mitdenken, als das in der Vergangenheit der Fall war. Dabei sollte gerade Deutschland eine wichtige Rolle als Brückenbauer und Mittler spielen.
Mut zu klarer Haltung und deutlichen Worten
Eindimensionale Betrachtungen der „Russland-Frage“ verstellen den Blick auf das Wesentliche: Denn kurzsichtige antirussische Reflexe sind genauso gefährlich wie naives Relativieren oder Verschweigen der aggressiv-nationalistischen Politik der derzeitigen russischen Führung. Wer sich dem außen- und sicherheitspolitischen Erbe Willy Brandts verpflichtet fühlt, der braucht Mut zu klarer Haltung und deutlichen Worten, Ausdauer für den Dialog und unermüdliche Bereitschaft, Europa zusammen zu halten.