Zuwanderung

Europa regelt Einwanderung

Michelle Schumann16. April 2009

vorwärts.de: Frau Akgün, welches Ziel verfolgt die Europäische Union mit dem Pakt für Einwanderung und Asyl?

Lale Akgün: Die Europäische Union möchte attraktiver werden für Arbeitnehmer, die bisher häufig lieber nach Kanada oder in die USA gehen statt in europäische Länder. Darüber hinaus sollen
die EU-Staaten in Zukunft enger zusammenarbeiten beim Umgang mit Einwanderern ohne Aufenthaltserlaubnis. Wer illegal in die EU einreist und hier unangemeldet arbeitet, hat keinen Zugang zum
Gesundheitssystem und ist nicht rentenversichert. Zuwanderer ohne Papiere können leichter von ihren Arbeitgebern ausgebeutet werden und haben keinen Rechtsschutz wie andere Arbeitnehmer. Es ist
also dringend nötig, hier zu handeln. Weitere Punkte des Paktes sind Rückführungsbestimmungen sowie der Schutz der EU-Außengrenzen. Zudem sollen die verschiedenen einzelstaatlichen
Asylrechtssysteme der EU-Länder aneinander angepasst werden.

Wie wird sich die Einwanderung in Europa nach dem Pakt verändern, welche neue Regeln gibt es?

Einige der EU-Länder haben bisher noch keine oder schwach ausformulierte Regeln für gesteuerte Zuwanderung - für diese ist die "Blue Card" besonders wichtig, um attraktiver für
qualifizierte Arbeitnehmer zu werden. Auch für Wissenschaftler und Studierende soll es dadurch einfacher sein, nach Europa zu kommen um zu lehren oder zu studieren. Fachkräfte erhalten mit der
Blue Card automatisch ein zweijähriges Aufenthalts- und Arbeitsrecht in einem EU-Staat. Nach dieser Zeit sind eine Verlängerung und ein Umzug in einem anderen Mitgliedsstaat möglich. Auch der
Familiennachzug wird erleichtert. Zudem gibt es eine Reihe weiterer Regelungen, die etwa die Rückführung von Einwanderern ohne Aufenthaltserlaubnis betreffen.

Wird man die Menschen nur noch nach ihrem Nutzen für die eigene Volkswirtschaft aussuchen?

Nein. Denn das Asylrecht hat nichts mit der Einwanderungspolitik zu tun zunächst: Das Recht auf politisches Asyl bleibt natürlich. Zudem muss aber jeder Staat Zuwanderung regeln und
steuern. Das ist im Sinne der Zuwanderer wie der Aufnahmegesellschaft. Deutschland benötigt in Zukunft wieder mehr Zuwanderer in allen Bereichen - gering qualifizierte wie hoch qualifizierte
Menschen aus Drittstaaten. Durch unseren demografischen Wandel fehlen uns schon heute die Facharbeiter und Ingenieure. Laut einer Mc-Kinsey-Studie könnten uns im Jahr 2020 alleine in Deutschland
sechs Millionen Arbeitskräfte fehlen. Sechs Millionen, diese Zahl muss man sich einmal vorstellen. Daher ist es legitim, nach den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes zu gehen. Und auch
gesellschaftlich ist das sinnvoll: Wir wissen von den klassischen Einwanderungsländern, wie Kanada oder Australien, dass Einwanderung dann am besten funktioniert, wenn der Bildungsstand unter den
Zuwanderern in etwa gleich verteilt zu jenem der Aufnahmegesellschaft ist. Im Übrigen bedeutet gesteuerte Zuwanderung für mich auch ganz besonderes Augenmerk auf die soziale und kulturelle
Eingliederung dieser Menschen zu legen. Hier gilt der Spruch von Max Frisch: "Wir haben Arbeitskräfte gerufen, und es sind Menschen gekommen".

Die Bundesweite Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge kritisiert den Pakt als "restriktive Agenda, die die Menschenrechte und den Flüchtlingsschutz ausblendet" und verweist auf die
EU-Politik an den Außengrenzen: Verstößt die Europäische Union in der Praxis gegen die Menschenrechte?


Der Pakt beinhaltet gute Ansätze, ist jedoch auch in Teilen problematisch. Mir liegt zu viel Gewicht auf Abschottung: Vermeidung von irregulärer Migration in die EU muss prioritär gegenüber
Abschiebung sein - zentral ist die Frage, wie man mittels Entwicklungsarbeit den Herkunftsländern der Flüchtlinge auf die Beine hilft, damit die Menschen nicht weggehen müssen. Zudem müssen wir
darauf achten, dass der Flüchtlingsschutz und die Menschenrechte auf hohem Niveau beachtet werden. Es gibt zurecht Klagen und Kritik über die Operationen der Grenzschutzagentur FRONTEX
beispielsweise. Auch jenseits der Zwölf-Meilen-Zone auf dem Mittelmeer, die noch zum EU-Hoheitsgebiet gehört, sind die Flüchtlings- und Menschenrechte ohne Wenn und Aber einzuhalten. Unter den
Flüchtlingen sind immer wieder auch Menschen, die im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention schutzbedürftig sind, also nicht wieder in Drittländer zurückgebracht werden dürfen, wo ihnen Gefahr
droht. Damit das eingehalten wird, ist Transparenz und parlamentarische Kontrolle stärker denn je nötig. Darüber hinaus vermisse ich beim Pakt den Transfer, dass Einwanderung durch Integration
und soziale Rechte begleitet werden muss. Andernfalls bereiten wir den Boden für große soziale Probleme.



Sind Sie zufrieden mit dem Pakt für Einwanderung und Asyl, oder was muss die Europäische Union noch tun, um der Zuwanderungsbewegung heute und in Zukunft gerecht zu werden?


Der Pakt ist ambivalent: mit guten Ansätzen etwa in der Vereinheitlichung der europäischen Einwanderungspolitik, andererseits aber mit einem zu starken Gewicht auf Abschottung und
Grenzkontrollen. Wir sollten die Interessen der Ziel- wie auch der Herkunftsländer sowie die Interessen der Migrantinnen und Migranten unter einen Hut bekommen. Dabei dürfen
entwicklungspolitische Aspekte nicht unter die Räder geraten.

Dr. Lale Akgün ist Mitglied des Bundestages und Mitglied im Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union.
www.laleakguen.de

Interview: Michelle Schumann

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