
Am 1. Januar hat Portugal die EU-Ratspräsidentschaft von Deutschland übernommen. Was erwarten Sie vom kommenden halben Jahr?
Es macht einen Unterschied, wenn Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in der Bundesregierung sind. Während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft bis Ende 2020 gab es mindestens drei große Erfolge für die europäische Zusammenarbeit: Die EU hat ihren langfristigen Haushalt erhöht, ihr Klimaziel verschärft und ein neues Instrument für den Schutz der Rechtstaatlichkeit geschmiedet, nicht zuletzt auf Druck des Europäischen Parlaments hin. Die portugiesische Ratspräsidentschaft wird nun an der Umsetzung der Beschlüsse arbeiten. Insbesondere müssen die EU-Mitgliedstaaten den Wiederaufbaufonds gegen die Coronakrise umsetzen. Die Regierungen reichen dafür Reformpläne ein. Die Anwendung des Fonds muss dann reibungslos funktionieren.
Ministerpräsident Antonio Costa hat angekündigt, die Sozialpolitik in den Mittelpunkt der Ratspräsidentschaft rücken zu wollen. Wie sollte das konkret aussehen?
Für mehr Gerechtigkeit in Europa und um die Coronakrise einzudämmen muss die EU-Sozialpolitik mit Leben gefüllt werden. Formal haben die Staats- und Regierungschefs die sogenannte Europäische Säule sozialer Rechte beschlossen, bereits auf dem Göteborg-Sozialgipfel in 2017. Es muss jetzt endlich konkret werden. Die Staats- und Regierungschefs müssen ihre Blockaden gegen diese Fortschritte fallen lassen. Sie wollen dazu im Mai in Porto zusammenkommen.
Wir fordern als S&D-Fraktion im Europäischen Parlament unter anderem eine europäische Arbeitslosenrückversicherung, um nationale Systeme bei sprunghaft ansteigender Arbeitslosigkeit finanziell unter die Arme zu greifen, einen Rechtsrahmen für europäische Mindeststandards bei der Grundsicherung zu zimmern, den Kommissions-Vorschlag für faire Mindestlöhne aufzugreifen, einen echten Rechtsrahmen einzufügen sowie Tarifpolitik zu stärken, um Beschäftigte vor Ausbeutung zu schützen – derzeit ist jede zehnte Arbeitskraft in der EU von Armut betroffen – ferner eine Richtlinie für Transparenz bei Löhnen und Gehältern, um die systematische Benachteiligung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt zu beenden, eine Kindergarantie, um armutsgefährdeten Kindern unter anderem den Zugang zu medizinischer Versorgung, Ernährung, Wohnung und Bildung zu ermöglichen und einen Rechtsrahmen für bessere Arbeitsbedingungen im digitalen Zeitalter, einschließlich des Rechts auf Nicht-Erreichbarkeit außerhalb der vereinbarten Arbeitszeit und faire Bedingungen für Plattform-Beschäftigte.
Ursprünglich sollte die Konferenz zur Zukunft Europas im vergangenen Jahr beginnen, musste wegen Corona aber verschoben werden. Wird es 2021 endlich losgehen? Was erhoffen Sie sich davon?
Die Bürgerinnen und Bürger müssen darüber sprechen können, was ihre Sorgen sind und wo die EU ihr Leben verbessern kann. Die Konferenz soll aktives Engagement in der Demokratie ermöglichen und fördern – von den lokalen Ebene bis hin zur europäischen. Entscheidend ist, die Menschen einzubeziehen, die noch immer zu selten in öffentlichen Diskussionen beteiligt werden, darunter junge Menschen, Frauen und Minderheiten. Als Sozialdemokrat*innen wollen wir, dass sich die EU in mehreren Bereichen dringend verbessert: Europa muss große transnationale Herausforderungen wie soziale Ungleichheit und Gesundheitspolitik in der Pandemie bewältigen und den Klimawandel. Migration, faire Digitalisierung und gerechte Besteuerung sind weitere Kernbereiche, in denen es auf die europäische Zusammenarbeit ankommt.
Wir Sozialdemokrat*innen wollen die EU demokratischer und reaktionsschneller machen. Mögliche Strategien wären die Ausweitung der qualifizierten Mehrheitsentscheidungen unter den EU-Mitgliedstaaten, damit Nationalisten unter den Staats- und Regierungschefs sinnvolle EU-Lösungen wie den Corona-Aufbaufonds oder den Rechtsstaatsschutz nicht mehr so einfach blockieren können. Auch die Stärkung des Europäischen Parlaments über ein Initiativrecht für die Gesetzgebung würde Europa voranbringen.
Pünktlich mit dem Ende der deutschen Ratspräsidentschaft wurde der Brexit abgeschlossen. Wie wird das Ausscheiden Großbritanniens das Machtgefüge innerhalb der EU verändern?
Die Einigkeit der 27 verbleibenden EU-Staaten in den Brexit-Verhandlungen war wichtig, das ist ein gutes Zeichen für die Zukunft. Eine Mehrheit in Großbritannien wollte Europa als Binnenmarkt, nicht als Chance auf eine grundsätzlich engere Zusammenarbeit. Das Vereinigte Königreich hat deshalb früher viele gemeinsame Initiativen blockiert, die künftig möglicherweise mehr Aussicht auf Erfolg haben: eine demokratisierende Stärkung des Europäischen Parlaments und der EU-Sozialgesetze, aber auch eine harmonische Steuergesetzgebung, Regelungen für faire Arbeit und einen ambitionierteren Klimaschutz.
Durch den Ausstieg Großbritanniens wird der deutsch-französische Motor noch wichtiger. Der Corona-Wiederaufbaufonds zum Beispiel ist dank des engen Austausches zwischen Olaf Scholz und seinem Amtskollegen in Paris, Bruno Le Maire, entstanden. Aber auch die Zusammenarbeit mit den neuen Mitgliedsländern gewinnt an Bedeutung, weshalb Deutschland etwa das Weimarer Dreieck mit Frankreich und Polen pflegen sollte. Wir treffen für eine engere Kooperation regelmäßig die anderen sozialdemokratischen Gruppen der sozialdemokratischen Fraktion im Europaparlament. Diese Woche etwa sprechen wir mit unseren Kolleginnen und Kollegen aus der ungarischen Opposition gegen den Autokraten Viktor Orban, der Demokratie und Rechtsstaat im eigenen Land zersetzt, aber von CDU/CSU immer noch ihrer EVP-Fraktion im Europaparlament unterstützt wird. Diese mutigen Europäerinnen und Europäer unterstützen wir mit aller Kraft.