
Sie sei „tief besorgt“, sagte Ursula von der Leyen: über den jüngsten Ausstieg der Türkei aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen. Über die Lage der Menschenrechte im Land, seien sie doch ein „Kernstück“ für bessere Beziehungen zwischen EU und Türkei.
Konsequenzen dürften die Worte der EU-Kommissionspräsidentin nach ihrem Besuch beim türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in Ankara jedoch kaum haben. So viele Schläge gegen Menschenrechte, Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit verzeichnete die Türkei allein in den letzten Wochen, dass die Worte von der Leyens bald verpuffen dürften.
Erdoğan brüskiert von der Leyen
Dabei musste von der Leyen schon zu Beginn des Treffens erleben, wie wenig Respekt ihr in Ankara gezollt wird: Während EU-Ratspräsident Charles Michel ein Platz auf einem Sessel direkt neben Erdoğan zugewiesen wurde und die Herren sich bereits setzten, bliebt sie ratlos stehen. Auf einem Video, das in den sozialen Medien viral ging, hört man von der Leyen „ähm“ sagen. Schließlich nahm sie auf einem Sofa am Rande der Runde Platz. Bei früheren Besuchen der EU-Spitze in Ankara saß ihr Vorgänger Claude Junker noch direkt neben Erdoğan – auf Augenhöhe. EU-Parlamentarier Sergey Lagodinsky von den Grünen twitterte dazu: „’Ähm’ ist der neuen Begriff für ‚So sollten EU-Türkei-Beziehungen nicht sein“ und dazu die Hashtags #GiveHerASeat und #womensrights. Von der Leyen und Michel sagten auch dazu – nichts.
Stattdessen stellten sie Erdoğan eine Ausweitung der EU-Zollunion mit der Türkei in Aussicht und mehr Geld im Rahmen des Flüchtlingsdeals. Letzteres ist sicher notwendig, um den knapp vier Millionen registrierten (plus ein bis zwei Millionen unregistrierten) Flüchtlingen im Land ein Minimum an Versorgung zu garantieren. Es ist keine langfristige und humane Lösung der Flüchtlingsfrage, hilft aber der EU, um ihre Festung Europa zu stärken. Dafür ist sie auf die Türkei angewiesen. Eine Ausweitung der Zollunion würde Erdoğan gerade recht kommen, schließlich steckt die Türkei in einer tiefen Wirtschafts- und Währungskrise.
Drohungen mit Sanktionen – ohne Folgen
Zwar knüpften die EU-Spitzen Zugeständnisse an den „Besserungswillen“ der Türkei, präsentierten scheinbar eine Taktik von Zuckerbrot und Peitsche. Doch angesichts der Tatsache, dass die EU der Türkei seit Monaten Sanktionen androht, diese aber selbst jetzt nicht in die Tat umsetzt, nehmen sie ihren Drohungen jeden Schrecken.
Der Besuch sei ein „falsches Signal“ an die Türkei gewesen, meint die Vizepräsidentin des EU-Parlaments und SPD-Politikerin Katharina Barley. Diplomatie und Dialog seien immer gut, aber der Zeitpunkt des Treffens nicht gut gewählt, so Barley heute im Deutschlandfunk Nova.
Erdoğan bekämpft die Oppostion
Tatsächlich liegen hinter der Türkei turbulente Wochen. Die türkische Opposition ist nicht bloß entsetzt, dass Erdoğan Mitte März mitten in der Nacht per Dekret aus der Istanbul-Konvention ausgestiegen ist und in der gleichen Nacht noch den Notenbankchef auswechselte. Anfang März wurde auch ein Verbotsverfahren gegen die zweitgrößte Oppositionspartei HDP eröffnet, die Immunität ihres Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioğlu aufgehoben und er festgenommen. Das Verfassungsgericht kritisierte dies letzte Woche als mangelhaft. Erdoğans ultranationalistischer Bündnispartner Devlet Bahçeli forderte darauf prompt, das Verfassungsgericht gleich ganz zu schließen.
Dem nicht genug begann letzten Samstagabend ein neues Kapitel der immer absurderen türkischen Innenpolitik: 104 pensionierte Admirale kritisierten in einer gemeinsamen Erklärung Erdoğans geplantes Mega-Projekt „Kanal Istanbul“. Für rund 14 Milliarden Euro will der Präsident einen alternativen Kanal parallel zum Bosporus graben lassen. Die türkische Opposition, Umweltschützer und Geologen kämpfen seit Jahren dagegen. Zuletzt hatte es Diskussionen darüber gegeben, ob der neue Kanal den internationalen Vertrag von Montreux unterwandern würde, der die Durchfahrt von Schiffen durch den Bosporus und die Dardanellen regelt. Die Admiräle bekannten sich in ihrer Erklärung zum Vertrag von Montreux.
Ein Feldzug gegen die Demokratie
Man mag diskutieren, ob einstige Vertreter des Militärs, das in der Geschichte der Türkei mehrmals putsche, sich politisch äußern sollten. Und auch der fast nächtliche Zeitpunkt der Veröffentlichung der Erklärung ruft bei vielen Türken böse Erinnerungen wach. Doch die Reaktion Ankaras war unverhältnismäßig: Die Regierung verurteilte die Erklärung aufs Schärfste; am Montag wurden zehn der Generäle festgenommen. Ihnen wird ein Vergehen gegen die Sicherheit des Staates und die verfassungsmäßige Ordnung vorgeworfen.
Und kaum waren von der Leyen und Michel wieder abgereist, polterte Erdoğan am heutigen Mittwoch, die Erklärung der Admirale rieche nach Putsch – und im Zentrum dieses Planes stehe die größte Oppositionspartei CHP. Immerhin seien vier der Admirale CHP-Mitglied. Die Schwesterpartei der SPD, die unter anderem die Bürgermeister von Istanbul, Ankara und Izmir stellt, dürfte nun zur nächsten Zielscheibe Erdoğans werden. Die EU-Spitze hat dem türkischen Präsidenten dafür gestern quasi einen Freibrief erteilt.