
Die Premiere verschob sich etwas. Mehr als eine Stunde hatte sich der Auftritt von Frans Timmermans verzögert, die EU-Kommission hatte länger als erwartet über Polen beraten. Dann verkündete der für Grundwerte zuständige Erste Vizepräsident der EU-Kommission: „Die EU will sich davon überzeugen, ob rechtstaatliche Grundwerte in Polen eingehalten wurden.“ Erstmals in der Geschichte der EU wird nun der sogenannte Rechtstaatsmechanismus angewandt. Ein Blick auf Verfahren und mögliche Konsequenzen.
Staatsumbau: Wozu Ungarn Jahre brauchte, setzt Polen in Tagen um
Der Fall: Die neue nationalkonservative Regierung in Polen von Jaroslaw Kaczynski, Chef der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) hat im Dezember mit einem Mediengesetz zuerst die Spitzen des staatlichen Rundfunks ausgetauscht, dann mit einer weiteren Regelung zusätzliche Verfassungsrichter berufen. Die Konsequenz: Aufgrund der erforderlichen Sperrmehrheiten kann Polens Gericht derzeit keine Entscheidungen treffen. „Kaczynski setzt in zwölf Tagen um, wozu Viktor Orban in Ungarn Jahre gebraucht hat“, schimpfte Oppositionsführer Grzegorz Schetyna. Timmermans wollte in zwei Briefen mehr zu den Gesetzen erfahren. Er solle „vorsichtiger sein im Umgang mit dem Parlament und der Regierung eines souveränen und demokratischen Landes“, verbat sich der polnische Justizminister Zbigniew Ziobro.
Das Verfahren: Timmermans prüft nun vor allem Dingen das Gesetz zum Verfassungsgericht. Er stützt sich dabei auf ein neues Verfahren, dass der niederländische Sozialdemokrat als Außenminister seines Landes selbst mitinitiiert hatte: das sogenannte Rechtstaatsverfahren. Seit März 2014 kann die EU-Kommission bei begründeten Zweifeln das rechtstaatliche Vorgehen von Regierungen in einem dreistufigen Verfahren prüfen. Die erste Stufe sieht eine gründliche Untersuchung des Falles auf rechtstaatliche Versäumnisse vor. Ist der Rechtsstaat systemisch verletzt und unternimmt die Regierung keine Anstrengungen zu Reformen, kann die EU-Kommission in der zweiten Stufe eine Liste von Vorschlägen unterbreiten.
Bleiben diese unberücksichtigt kann die EU-Kommission einen Entzug des Stimmrechts des Landes bei Entscheidungen nach Artikel 7 der EU-Verträge veranlassen. Im Kreis der Staats- und Regierungschefs ist dazu eine Vier-Fünftel-Mehrheit notwendig. Unabhängig davon könnte die EU auch Sanktionen gegen ein Mitgliedsland beschließen, dies kann aber nur einstimmig geschehen und ist unwahrscheinlich. Ungarns rechtspopulistischer Regierungschef Viktor Orban, Kaczynskis Bruder im Geiste, hatte bereits angekündigt gegen Sanktionen zu stimmen.
Die EU konzentriert sich auf das Verfassungsgericht
Die Taktik: „Wir setzen auf Kooperation und Dialog“, sagte Timmermans am Mittwoch in Brüssel. Ein kluger Schritt. So konzentriert sich Timmermans vorerst auf das Gesetz zum Verfassungsgericht. Dabei arbeitet er eng mit dem Europarat zusammen, einem Menschenrechtsgremium von mehr als vierzig europäischen Staaten in Staaten mit Sitz in Straßburg. So will Timmermans alles vermeiden, was nach der boulevardzeitungsträchtigen Schlagzeile aussieht: EU legt sich mit Polen an.
Zum Mediengesetz wollte Timmermans in einem weiteren Brief am Mittwoch weitere Einzelheiten erfahren. Auch EU-Diplomaten hatten dazu geraten, den medialen Teil abzutrennen, weil es – außer in Großbritannien, den Niederlanden und Lettland – im öffentlichen Rundfunk in vielen EU-Staaten einen mehr oder minder großen staatlichen Einfluss gibt. Bis Mitte März will Timmermans nun die Reform des Verfassungsgerichts prüfen. Und dann notfalls über Phase 2 entscheiden.
Der EU fehlen wirksame Sanktionsmittel
Der Hintergrund: Schon im Streit mit Österreich über die Koalition der konservativen ÖVP mit Jörg Haiders rechter FPÖ hatte sich 2000 gezeigt, dass der EU die nötigen Mittel fehlen, wenn sie in einem Land rechtsstaatliche Missstände wähnt. Das Stimmrechtsentzug nach Artikel 7, ein kalter Rauswurf aus der EU, wurde bereits 1997 im Vertrag von Amsterdam besiegelt. Aber die Konsequenzen sind so gravierend, dass die EU vor einem solchen Schritt zurückschreckt. Im Falle Österreichs hatte man sich 2000 auf bilaterale Sanktionen geeinigt. Doch der Fall wurde nach 2011 wieder aktuell als Viktor Orban sich in Ungarn mit einer Reihe von Gesetzen zu Rundfunk und Verfassungsgericht an den Staatsumbau machte. Auch als in Rumänien Victor Orban 2012 versuchte den missliebigen Präsidenten Traian Basescu aus dem Amt zu drängen, wurde es heikel. Der EU fehlten die rechtlichen Mittel.
EU-Justizkommissarin Viviane Reding griff daher im Fall Rumäniens zu einem Trick. Sie drohte mit der Kürzung von Fördergeldern und einem weiteren Hinauszögern des Zugangs zum grenzenlosen Schengen-Raum. Ponta lenkte ein, Basescu wurde in einem Referendum bestätigt. Dennoch sind beide abgewählt und Geschichte. Ein Erfolg der Zivilgesellschaft. Unterstützt durch die EU. Schwieriger war der Fall Ungarn mit Orban, zwar präsentierte Reding eine Liste mit Forderungen und drohte auch hier mit der Kürzung von Geldern, aber der Regierungschef lenkte immer nur soweit ein, um die Vorgaben formal zu erfüllen. Der Versuch, ein Verfahren zum Stimmrechtsentzug einzuleiten, scheiterte an den Konservativen im Europaparlament. Timmermanns und eine andere Gruppe von Außenministern handelten und regten den Rechtstaatsmechanismus an, der seit zwei Jahren in Kraft ist.
Nicht Polen steht in der Kritik, sondern seine Regierung
Die Reaktionen: „Als Hüterin der Verträge muss die EU-Kommission eine unabhängige Presse und Justiz in Europa schützen“, sagte die SPD-Europaabgeordnete Sylvia-Yvonne Kaufmann. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hatte der polnischen Regierungschefin Beata Szydlo zuvor in einem Telefongespräch versichert, es handele sich um eine „Routineprozedur“. Szydlo wählte im Parlament aber die Angriffsvariante: „Wir werden keine Politik auf Knien führen“, sagte sie am Mittwoch und rief die Opposition auf in gemeinsam gegen die „Verleumdung“ von außen mobil zu machen. Die Opposition aber benannte Ursache und Wirkung. „Es sind nicht Polen oder seine Bürger, die verleumdet werden“, sagte Rafal Trzaskowski von der liberalkonservativen Bürgerplattform PO zur Regierungschefin: „Es sind unsere Partner, die beunruhigt sind über Ihr Handeln.“