Seit 2009 sind Sie live beim ESC dabei. Sie waren bereits in der Ukraine nach der Annexion der Krim und in Aserbaidschan. Welche Rolle spielt die politische Situation bei diesem ESC in Israel?
Auch wenn die Statuten des Song Contests von einem „unpolitischen“ Charakter sprechen und politische Äußerungen und Stellungnahmen in Texten, Äußerungen, Pressekonferenzen und Inszenierungen verboten sind, war der ESC in unseren Augen schon immer eine politische Angelegenheit. Das zeigte sich bereits 2009 in Moskau wegen des vorangegangenen Georgienkonflikts und wurde in Baku und Kiew fortgeführt.
In Deutschland sehen viele den ESC als Trash und Kommerz. Ein nationalistisch-patriotischer Song, wie ihn dieses Jahr zum Beispiel Georgien gebracht hat, wird dann schnell als skurrile Folklore abgetan, ohne die Bereitschaft, sich mit den Hintergründen auseinanderzusetzen. Auf vorwärts.de und in unserem Blog EuroVisionen haben wir deshalb schon immer ganz genau auch die Texte unter die Lupe genommen.
Auf jeden Fall hat hier die Regierung Netanjahu nach Nettas Sieg für Israel im vergangenen Jahr massiv versucht, das Event nach Jerusalem zu holen und für sich zu instrumentalisieren. Wir haben uns erst für die Reise hierher entschieden, als klar war, dass es im liberalen Tel Aviv stattfinden würde. Da hat die EBU (European Broadcasting Union (Anm.d.Red) vermutlich viel Druck hinter den Kulissen ausgeübt.
Tel Aviv ist also der passende Austragungsort?
Mal ganz im Ernst: wo sollte der ESC dann noch ausgetragen werden können? Wir finden es richtig, diese liberalen und bürgerrechtlichen Kräfte zu unterstützen. Allerdings hat im Vorfeld die BDS-Bewegung (Boycott, Divestment and Sanctions, die zum Boykott israelischer Produkte aufruft) massive Boykottaufrufe mit namhaften Musikern und Musikerinnen gestartet. Zum Glück hat sich in Deutschland die Einsicht durchgesetzt, dass die sich selbst als antizionistisch bezeichnende Bewegung leider antisemitisch agiert. In Irland oder in den skandinavischen Ländern wird dies unreflektierter gesehen und es gab Boykottforderungen an die TV-Sender. Wir sind uns des Spannungsfeldes aber sehr wohl bewusst und natürlich spielt Politik hier eine große Rolle. Und hierher zu fahren und zu feiern ist natürlich ebenso politisch wie fernzubleiben. Wir finden, es kommt auf den offenen Diskurs an, gerade in einer so verfahrenen Situation wie hier.
Spiegelt sich die in den Auftritten der Künstler wider?
Oh nein! Wegen der erwähnten Statuten geht dies nicht wirklich – höchstens verklausuliert. Aber natürlich haben die Künstlerinnen und Künstler Handlungs- und Interpretationsspielraum. Da gibt es die isländische Punkrock-Band Hatari, die am Dienstag den Sprung ins Finale geschafft hat. Die bezeichnen sich selbst als hochpolitisch und antikapitalistisch. Ihr Song Hatrið mun sigra (Der Hass wird siegen) ist eine sehr intelligente Dystopie über den drohenden Untergang Europas. Sie haben sich im Vorfeld für BDS ausgesprochen und auf einer der Pressekonferenzen das Ende jeglicher Besatzungspolitik gefordert. Im Vorfeld hatten sie Benjamin Netanjahu aufgefordert, statt seiner Politik lieber einen isländischen Ringkampf mit ihnen auszutragen. Die EBU dürfte ganz schön nervös angesichts ihres bevorstehenden Finalauftritts sein, da keiner weiß, ob sie dann noch etwas draufsetzen. Die sind aber eher die Ausnahme. Der Großteil der Künstlerinnen und Künstler plappert nur gebetsmühlenartig davon, dass es hier um Musik und nicht um Politik gehe.
Erst vor wenigen Tagen schlugen Raketen der Hamas in der Nähe des Austragungsorts Tel Aviv ein. Hat das Einfluss auf die Darbietungen der Musiker?
Es war erst mal für uns eine sehr skurrile Erfahrung, etwas davon zu spüren, wie es sich unter einem solchen Dauerkonflikt und unter beständiger Bedrohung lebt. Ohne den ESC wäre es vermutlich nicht zu einer so schnellen Waffenruhe gekommen. Viele Musikerinnen und Musiker waren während der Angriffe mit Proben beschäftigt und wurden oft in den Pressekonferenzen von Fragen danach überrascht. Es waren vor allem israelische Journalisten, die hier um Statements baten. Die EBU hat versucht, diese Fragen in den PKs zu unterbinden. Die Serbin Nevena Božović und die Isländer von Hatari wehrten sich jedoch gegen diese Bevormundung und bestanden darauf, antworten zu dürfen.
Die Angst gehört also gewissermaßen in diesem Jahr zum ESC dazu?
„Feiern, als ob es das letzte Mal wäre“ – das ist es, was man der Stadt Tel Aviv zuschreibt und zwischen „business as usual“ und der beständigen Angst vor einer Eskalation ist für uns ein Leben hier sehr schwer vorstellbar. Im Alltag überwiegt jedoch das Gefühl von Sicherheit, obwohl die Sicherheitsmaßnahmen selbst in Lissabon paradoxerweise weitaus sichtbarer und spürbarer waren als hier. Bedrohung ist hier ständige Realität und die Menschen haben gelernt, damit zu leben. Vermutlich bekommen die Musiker noch weniger davon mit als wir.
Was erwarten Sie von der Show am kommenden Samstag?
Wir erwarten, dass viele Botschaften transportiert werden. Die Organisatoren der Show gehören zum liberalen Tel Aviv und bereits in den Semi-Finalshows wurden etwa mit einer Kisscam zu einem Song der transsexuellen Siegerin von 1998, Dana International, schwule Küsse auf die russischen TV-Geräte gesendet. Kritiker nennen das „Pinkwashing“ – wir sprechen da lieber von liberalen Statements. Natürlich will Israel sich wie alle austragenden Ländern gut präsentieren und wir erwarten eine fulminante Show und einen extrem spannenden Wettbewerb in diesem Jahr.
Was ist ihr Tipp: Wer gewinnt den diesjährigen ESC?
Sogar zwischen den von den Buchmachern gesetzten Favoriten Niederlande, Italien, Schweden, Australien, Russland und der Schweiz ist es spannend wie schon lange nicht mehr. Wir sehen uns eher als Berichterstatter denn als Orakel. Die Sicherheitsantwort wäre jedoch Duncan Laurence aus den Niederlanden – der sicher 12 Punkte aus Deutschland bekommen dürfte; das Bauchgefühl sagt uns, dass Australien mit einer atemberaubenden Umsetzung des schwierigen Themas Depressionen alle überraschen könnte.