
„In besonders benachteiligten Kommunen und Stadtteilen (fünf Prozent) errichten wir niedrigschwellige Beratungsangebote (z.B. Gesundheitskioske) für Behandlung und Prävention.“ So steht es im Koalitionsvertrag der Ampel-Koalition von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP im Bund. Die Beratungsangebote sollen für mehr Gerechtigkeit sorgen, denn wer arm ist, stirbt früher. Das belegen Daten des Soziooekonomischen Panels (SOEP).
Menschen mit niedrigem Einkommen, Berufsstatus und Bildungsniveau haben ein erhöhtes Risiko für chronische Krankheiten und gesundheitliche Beschwerden. „Bei Risikofaktoren wie Rauchen, Bewegungsmangel, Übergewicht und Hypertonie zeichnen sich die sozialen Unterschiede deutlich ab“, so das SOEP. Das zeigen auch die Daten für Hamburg. Im wohlhabenden Stadtteil Blankenese beträgt die Lebenserwartung durchschnittlich 82 Jahre, im sozial benachteiligten Billstedt/Horn sind es 72 Jahre.
Wohnortnahe Beratung im Gesundheitskiosk
Um die gesundheitliche Lage von Menschen, die in sozial benachteiligten Regionen leben, zu verbessern und um die begrenzten Mittel in der Versorgung besser einzusetzen, hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) den ersten Gesundheitskiosk Deutschlands in Billstedt gefördert. Ziel des Projekts war es, die wohnortnahe Versorgung zu Stärken und Über-, Unter- und Fehlversorgung zu vermeiden. Es wurde drei Jahre aus Mitteln des Innovationsfonds beim G-BA finanziert. Das Projekt war aus Sicht des G-BA so erfolgreich, dass er empfohlen hat, den Gesundheitskiosk in die Regelversorgung zu überführen.
Um mehr über das Konzept zu erfahren, besuchten Heike Baehrens, gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag, die Bundestagsabgeordneten Andreas Philippi und Herbert Wollmann, sowie weitere weitere SPD-Gesundheitsexpertinnen und -experten den Kiosk in Billstedt. Die Leitfrage war: „Wie können wir das Gesundheitssystem so weiterentwickeln, dass alle Menschen Zugang zu einer guten Versorgung haben“, so Heike Baehrens. Der Kiosk liegt mitten im Stadtteil Billstedt. Zweimal pro Woche findet vor der Tür ein vielbesuchter Markt statt. Der Schriftzug „Gesundheitskiosk“, der über dem Eingang prangt, ist von dort nicht zu übersehen.
Informieren, erklären, motivieren
Im Gesundheitskiosk laufen die Fäden der medizinischen Versorgung im Stadtteil zusammen. Mehr als die Hälfte der Ärztinnen und Ärzte im Stadtteil arbeiten mit dem Kiosk zusammen. Der wiederum ist mit den Krankenhäusern, den Seniorenheimen und den Sportvereinen vernetzt. Gesundheitsvorträge und Bewegungskurse, wie Herzsport, Abnehmen oder Rückengymnastik und eine Hebammensprechstunde ergänzen das Angebot. Sie finden in einem extra dafür eingerichteten Raum statt.
61 Prozent der Menschen in Hamburg Billstedt haben einen Migrationshintergrund. Im Kiosk werden die Sprachen des Stadtteils gesprochen: von Türkisch bis Russisch. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen daher nicht nur akademisch ausgebildete und praxiserfahrene Pflegekräfte sein, sondern zusätzlich auch entsprechende Fremdsprachen mitbringen. „Etwa 60 Prozent unserer Patienten haben eine Überweisung und eine Diagnose vom Arzt“, sagt Cagla Kurtcu, die Leiterin des Gesundheitskiosks. 20 Prozent kommen zum Beispiel, weil ein Nachbar die Beratung dort empfohlen hat, weitere 20 Prozent werden von den Sportvereinen geschickt. Im Gesundheitskiosk werden sie in ihrer Muttersprache beraten, unterstützt und motiviert. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Kiosk ergründen die medizinische Vorgeschichte und sorgen dafür, dass aus Diagnose und Therapieempfehlung das wird, was im Mediziner-Jargon „Compliance“ heißt, die aktive Mitwirkung der Patientinnen und Patienten.
Die Bundesregierung ist gefragt
Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen vermitteln gesundheitliche Kenntnisse, erklären Arztbriefe und Diagnosen, erklären, warum man bei Diabetes kein Brot essen sollte und warum zu viel Fleisch und Fett ungesund sind. Dazu haben sie die Zeit – bei der Erstberatung sind es 45 Minuten –, die die überlaufenen Arztpraxen im Stadtteil nicht haben. Weil die Gespräche in der Muttersprache geführt werden, steigt das Vertrauen in die Erklärungen und die aktive Mitwirkung verbessert sich. Die AOK hat festgestellt, dass die Ausgaben für Krankenhauseinweisungen und Notaufnahmen sinken, seit es die Beratungsstelle gibt.
Das Gesundheitsnetzwerk gibt es seit 2017. Nach dem Ende der Finanzierung aus dem G-BA Innovationsfonds, ist es gelungen, mit fünf Krankenkassen Verträge für die Weiterführung abzuschließen. Allerdings hat das Modell derzeit den Nachteil, dass bislang nur Mitglieder der beteiligten Kassen von den Leistungen profitieren können. Wenn sich das ändern soll, ist die Bundesregierung gefragt. Sie muss dazu den Koalitionsvertrag umsetzen und das Modell Gesundheitskiosk in die Regelversorgung einbeziehen. „Gerade in sozial benachteiligten Stadtteilen kann so ein Konzept dabei helfen, dass alle Versicherten die Chance haben, die Leistungen des Gesundheitssystems in Anspruch zu nehmen“, ist das Fazit der Gesundheitspolitikerin Heike Baehrens.