
Scharfe Worte ist die EU vom türkischen Staatspräsidenten gewohnt, doch seine jüngste Rede zum türkisch-griechischen Konflikt erreichte eine neue Dimension: „Wenn es ums Kämpfen geht, sind wir bereit, Märtyrer zu werden", verkündete Erdogan am Sonntag. "Die Frage ist: Sind diejenigen, die sich gegen uns im Mittelmeer auflehnen, zu den gleichen Opfern bereit?" Die politische Führung in Athen und Paris nannte Erdogan „Geldgierig und inkompetent“. Nationalistische Kriegsrhetorik bestimmt nun einen Konflikt, in der die EU um Haltung ringt.
Seit Monaten streiten sich die Türkei und Griechenland um Seegrenzen im östlichen Mittelmeer. Beide beanspruchen Gebiete, in denen Erdgasvorkommen vermutet werden, für sich. Seit Wochen sucht das türkische Forschungsschiff „Oruc Reis“ vor griechischen Inseln und westlich von Zypern nach Erdgasvorkommen. In dieser Woche kündigte Ankara an, die Mission bis zum 12. September zu verlängern.
Dagegen regt sich immer mehr Widerstand: Griechenland startete Ende August mit französischer, italienischer und zypriotischer Unterstützung Marine-Manöver im Mittelmeer, das Militär ist in höchster Alarmbereitschaft. Die USA hoben ihr Waffenembargo gegen Zypern teilweise auf. Ankara nannte das "Gift für Frieden und Stabilität in der Region". Die EU hingegen betrachtet Ankara als den eigentlichen Aggressor und steht hinter Griechenland.
Heiko Maas versucht zu vermitteln
Die Bundesregierung versucht den Konflikt mit diplomatischen Mitteln zu lösen. Außenminister Heiko Maas reiste dazu vergangene Woche nach Athen und Ankara. Doch sein Erfolg war dürftig – keine der beiden Seiten zeigte sich kompromissbereit. Damit sinken die Hoffnungen auf eine kurzfristige Lösung.
An einem offenen Krieg dürften weder Athen noch Ankara Interesse haben. Doch für Erdogan zahlt es sich innenpolitisch aus, die Spannungen im Mittelmeer zu erhalten. Er lenkt damit erfolgreich von zahlreichen Krisen im eigenen Land ab: die türkische Wirtschaft strauchelte schon vor Corona, die Türkische Lira befindet sich weiter auf Talfahrt, Millionen von Türk*innen leiden unter Inflation und Massenarbeitslosigkeit. Die Corona-Krise, die Ankaras anfangs noch mit strikten Maßnahmen im Zaum hielt, scheint nun außer Kontrolle, warnt die türkische Ärztekammer. Hinzu kommen politische Verluste: Die Opposition gewann bei den Kommunalwahlen 2019 die wichtigsten Großstädte des Landes für sich. Erdogans Ex-Premier Ahmet Davutoglu hat mittlerweile eine eigene Partei gegründet, ebenso sein Ex-Wirtschaftsminister Ali Babacan.
Harte Außenpolitik als innenpolitisches Mittel
Das wirkungsvollste Mittel gegen diesen Machtverlust sind für Erdogan außenpolitische Manöver – nicht nur im östlichen Mittelmeer, sondern auch in Nordsyrien, Nordirak und in Libyen. Spätestens seit Erdogan 2018 ein Wahlbündnis mit der ultrarechten MHP eingegangen ist, setzt er auf nationalistische Politik, präsentiert sich als starker oberster Befehlshaber der Streikräfte. Gegen den Konflikt mit Griechenland sagt auch die Opposition kaum etwas.
Denn Erdogan hat mit diesem Konflikt einen wunden Punkt getroffen. Zum einen ist eine nationalistische Gesinnung in der Türkei über Parteigrenzen hinweg tief verwurzelt; Zum anderen ist die geographische und rechtliche Lage im östlichen Mittelmeer kompliziert. Denn während die Türkei von einer über 8000 Kilometer langen Küste umgeben ist, gehören zum Nachbarn Griechenland zahlreiche teils winzige Inseln. Über die Seegrenzen zwischen Griechenland und der Türkei wird immer wieder gestritten. Seit in den 1990er Jahren Erdgasvorkommen im Mittelmeer entdeckt wurden, hat der Streit eine wirtschaftliche Dimension bekommen.
Die UN-Seerechtskonvention von 1982 erklärt, ein Staat habe in einer 200-Meilen-Zone um seine Küsten herum das alleinige Recht zur Ausbeutung von Bodenschätzen. Diese „Ausschließlichen Wirtschaftszonen“ (AWZ) gelten auch für Inseln. Griechenland beruft sich auf diese Konvention, die Türkei hingegen hat das Abkommen nie unterzeichnet und argumentiert, Inseln hätten keine AWZ. Aus gutem Grund: die UN-Regelung minimiert die AWZ der Türkei enorm, während es die AWZ Griechenlands ernorm vergrößert.
Bilaterale Abkommen sorgen für Zündstoff
Dagegen versucht die Türkei Tatsachen zu schaffen. Im letzten Herbst schloss sie mit Libyen ein Abkommen über Seegrenzen, das die griechischen Inseln vollkommen ignorierte. Im Gegenzug schloss Griechenland Anfang August ein ähnliches Abkommen mit Ägypten und erklärte das türkisch-libysche für obsolet. Und das nur wenige Tage, bevor die Bundesregierung Verhandlungen mit beiden Ländern anberaumt hatte. Ankara sagte daraufhin seine Teilnahme ab und schimpfte das Ankommen ein „Piratenabkommen“. Seither nehmen die Machdemonstrationen im Mittelmeer kein Ende.
Der Ausweg aus dieser Sackgasse führt nur über Verhandlungen, meint Tolga Candan, Privatdozent für Völkerrecht der türkisch-deutschen Universität in Istanbul. Laut dem UN-Abkommen müssen im Streitfall betroffene Länder verhandeln oder vor ein Schiedsgericht ziehen – was die Türkei ebenso wie Griechenland derzeit ablehnen. Stattdessen setzen beide auf maximalistische Forderungen. „Dieser Konflikt kann eigentlich nur durch multilaterale Abkommen gelöst werden“, so der Rechtswissenschaftler. „Die Türkei hätte solche Abkommen vor Jahren abschließen müssen, als sie gute diplomatische Beziehungen zu ihren Nachbarn unterhielt.“ Davon ist nicht mehr viel übrig. Ob Erdogan nun mit seiner Strategie der Drohungen und maximalen Forderungen zu seinem Recht kommt, ist höchst fraglich.