Migrationspolitik

Einwanderung: Deutschland braucht 400.000 Fachkräfte pro Jahr

Jonas Jordan21. Juli 2022
Mindestens 400.000 Menschen aus dem Ausland pro Jahr sind künftig notwendig, um den Fachkräftemangel in Deutschland auszugleichen.
Mindestens 400.000 Menschen aus dem Ausland pro Jahr sind künftig notwendig, um den Fachkräftemangel in Deutschland auszugleichen.
Im Herbst wollen Hubertus Heil und Nancy Faeser ein Gesetz vorlegen, um die Einwanderung nach Deutschland für Fachkräfte zu erleichtern. Das ist Expert*innen zufolge auch dringend notwendig.

Deutschland ist stark vom demografischen Wandel betroffen. Dadurch gibt es aktuell einen Rekord an offenen Stellen auf dem Arbeitsmarkt. Aktuell sind es circa 1,8 Millionen und in den kommenden Jahren könnten es noch mehr werden. Daher will Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) zum einen Anreize schaffen, um Langzeitarbeitslose wieder in Beschäftigung zu bringen und sie für die entsprechenden Jobs zu qualifizieren. Zum anderen plant Heil gemeinsam mit Innenministerin Nancy Faeser (SPD) im Herbst einen Gesetzesentwurf vorzulegen, um für Fachkräfte die Möglichkeit, nach Deutschland zu kommen, zu erleichtern.

Deutlich mehr Zuwanderung nötig

Das ist aus der Sicht verschiedener Expert*innen dringend nötig. Durch den demografischen Wandel gebe es jedes Jahr 350.000 Menschen im erwerbstätigen Alter weniger in Deutschland, führt der Arbeitsmarktforscher Herbert Brücker, der den Forschungsbereich „Migration, Integration und internationale Arbeitsmarktforschung“ am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg leitet, bei einem Pressegespräch des Mediendienstes Integration am Donnerstagvormittag aus. Würde die Entwicklung so weitergehen, gäbe es bis zum Jahr 2060 ein Drittel weniger Arbeitskräfte in Deutschland. Um das auszugleichen, bräuchte es eine Netto-Einwanderung von 400.000 Menschen pro Jahr. Damit diese erreicht werden könne, seien insgesamt schätzungsweise 1,6 Millionen Zuzüge notwendig.

„Im letzten Jahrzehnt war Deutschland das bedeutendste Einwanderungsland innerhalb Europas“, führt Brücker aus. In Folge der Finanzkrise 2008/09 habe es eine gewaltige Umlenkungsbewegung gegeben. Nun kämen jedoch zwei Krisen zusammen: zum einen der thematisierte demografische Wandel, zum anderen gehe auch der Zuzug nach Deutschland aus EU-Ländern zurück, da sich vielfach in den Herkunftsländern die Bedingungen verbessert hätten. Brücker mahnt: „Wenn wir die entsprechenden Bedingungen hätten, wären wir auch global gesehen ein attraktives Einwanderungsland.“

Winter: Ohne Zuwanderung Gefahr für die Sozialversichtungssysteme

Auch Markus Winter ist die Problematik bekannt. Er ist seit 2013 Geschäftsführer des Industriedienstleisters IDS in Baden-Württemberg mit 700 Mitarbeiter*innen sowie Vorsitzender des Beirats „Ausbildung und Migration“ der Industrie- und Handelskammer Stuttgart. „Es ist nicht mehr möglich, annähernd ausreichend Arbeitskräfte innerhalb Deutschlands zu generieren“, berichtet er. Auch innerhalb Europas seien die Ressourcen langsam erschöpft. Daher mahnt er: „Ohne diese Zugewanderten werden wir in der Industrie ein riesiges Problem bekommen.“

Seiner Meinung nach sollte ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz entsprechend darauf geprüft werden, ob es geeignet sei, die erforderlichen 400.000 Personen nach Deutschland zu bringen. Winter warnt: „Wenn wir zu lange warten, wird nicht nur das Rentenversicherungs-, sondern auch das Krankenversicherungssystem kippen.“

Geflüchtete sind nur bedingt eine Lösung

Die Rechtsanwältin Bettina Offer berät mit ihrer Kanzlei bundesweit international tätige Konzerne und mittelständische Unternehmen, die ausländische Mitarbeiter*innen beschäftigen. Sie schlägt vor, analog zur Regelung für die Staaten des Westbalkans Kontingente für Menschen aus bestimmten Ländern zu schaffen, damit diese legal als Arbeitskräfte nach Deutschland kommen könnten. „Es ist sehr viel sinnvoller, Arbeitskräfte legal anzuwerben als sie über das Mittelmeer auszuwählen“, kommentiert sie mit Blick auf Fluchtbewegungen nach Europa.

Die Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten sehen die Expert*innen nur bedingt als geeignetes Mittel, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Das liege zum einen daran, dass es in diesem Fall keine entsprechende Vorbereitung für die Arbeitsmarktintegration gebe, führt Brücker aus. „50 Prozent der Geflüchteten, die 2015 gekommen sind, sind jetzt im Arbeitsmarkt. Das ist durchaus ein Erfolg, aber es hat lange gedauert, auch wegen langwieriger Asylverfahren.“ Zum anderen habe es auch Probleme bei der Integration gegeben, berichtet Winter, die nach eigenen Angaben seit 2015 250 bis 300 Geflüchtete selbst eingestellt hat.

Sanktionen für Kommunen?

Aus Bettina Offers Perspektive sei ohnehin die Rechtslage gar nicht entscheidend, sondern viel mehr die Frage der Umsetzung vor Ort, in den Konsulaten im Ausland sowie in den Städten und Kommunen. „Es gibt wenig Sanktionsmöglichkeiten, wenn das System nicht funktioniert“, bedauert sie und fordert daher: „Wenn es zu lange dauert, muss es für die Kommunen teuer werden.“ Auch müssten Unternehmen eine Art Widerspruchsrecht erhalten, wenn die Einwanderung benötigter Fachkräfte seitens der Behörden abgelehnt werde.

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Kommentare

Es schlägt 13 !

Arbeitskräftemangel ? das ist doch der alte Hut der Neoliberalen, die nicht bereit sind den Fachkräften, die es hierzulande gibt anständigen Lohn/Gehalt zu zahlen. Und dann kommt Raffelhüschen samt Füst, Lindner und Merz und wollen die gesetzliche Rente mal wieder schwächen.
Und in Anbetracht der möglichen Energieträgerversorgungskrise, die Millionen Arbeitsplätze gefährdet, muss man nicht unbedingt die Trommel für mehr Billigarbeitskraftimporte schlagen.
Durch Diplomatie muss zuerstmal die Energieversorgung der Industrie und der Privaten sichergestellt werden, die Spekulation mit Lebensmitteln, national und international, muss unterbunden werden und auch auf die Mieten muss ein Deckel drauf. Ein DECKEL: und nicht wie bisher mit Wohngeld und Transferleistungen den Unmut besänftigen, ABER den Profit der Konzerne sichern - das ist keine sozialdemokratische Politik!

Lesen bildet

Mir scheint, es als hätten Sie den Text gelesen und wieder doch nicht gelesen oder Sie wollen den Inhalt bewusst missverstehen. Nirgendwo im Text ist von „mehr Billigarbeitskraftimporten“ die Rede. Im Gegenteil zeigen die genannten Expert*innen sehr gut die aktuelle Faktenlage auf, inklusive der drohenden Probleme für die Sozialversicherungssysteme. Aber man kann natürlich überall „Skandal! Ausbeutung! Neoliberalismus!“ rufen.

Lesen bildet. Die 'Expert

Lesen bildet. Die 'Expert*innen' zeigen in dem Text gar nichts auf. Was machen eigentlich die Millionen von neu in den letzten Jahren zugewanderten Fachkräften? Merkt in D keiner mehr was? Je mehr Zuwanderung wir hatten, desto mehr Fachkräfte fehlten uns!! Voodoo?

Das ist das Ergebniss wenn Wunschdenken die Realität ersetzt. Not und Elend am Ende.
quidquid agis, prudenter agas et respice finem

Was wollen Sie?

Ich frage mich, was Sie wollen: Polemisieren oder konstruktiv kommentieren? Ich versuche es mal mit einer konstruktiven Antwort: Der im Text zitierte Arbeitsmarktexperte Herbert Brücker hat darauf hingewiesen, dass mit dem erhöhten Zuzug von Menschen auch die Zahl der wegziehenden Menschen steigt. Entscheidend ist also das Saldo. Zudem erleben wir, wie im Text erwähnt, nicht mehr Fachkräftezuwanderung, sondern weniger. Der Fachkräftemangel nimmt zu, da der demographische Wandel sich stärker bemerkbar macht und zudem weniger Menschen aus EU-Staaten nach Deutschland kommen. Worauf bezieht sich Ihre Frage: „Was machen eigentlich die Millionen von neu in den letzten Jahren zugewanderten Fachkräften?“ Wenn Sie damit Geflüchtete meinen, finden Sie die Antwort ebenfalls im Text.

Wo bitte

zeigen die genannten Expert**inn**en aktuelle Fakten ? Seit 20 Jahren ist klar, daß private Rentenversicherungen eine ganz UNSICHER Sache für die Versicherten ist. Betriebsrente ist futsch wenn die Firma in ein Land umzieht in dem deutsche Gesetze nicht gelten und keine entsprechenden Vereinbarungen existieren. Die Starkung der der gesetzlichen Sozialversicherungen sind das A und O, Wer Fachkräfte braucht sollte sie auch ausbilden und zwar zuerst mal ais dem Pool der hier schon lebenden Menshen, seien sie hier gebürtig oder hierher geflüchtet. Mehr Zuzug bedeutet auch ein mehr an Wohnungen, Kitas, Schulen etc. und gerade in diesem Bereich gibt es noch einen erheblichen Nachholbedarf.

Hausgemachte Probleme

Mit der Agenda 2010 und dem SGB II wurden Fachkräfte systematisch dequalifiziert und dem Arbeitsmarkt entzogen. Denn erst mit dem SGB II wurde den Bürgern eine angemessene Anpassungs- oder Aufstiegsqualifizierung verweigert.

Die Abschaffung der Meisterpflicht für einige Bereiche entzog diesen dadurch qualifizierte Ausbilder, wodurch dann die dort auszubildenden Fachkräfte fehlten.

Intakte Industrie-, Handwerks-, Handels-, Verwaltungs- oder Gesundheitsbetriebe bilden dual selbst Fachkräfte aus. Das kann durch Förderung der Betriebe und überbetrieblichen Ausbildungsstellen der IHKs gesteigert werden.

Die ab 2005 durchgeführte "Bachelorisierung" deutscher Studiengänge mit einem unnötigen Kurzstudium [6 Semester anstelle 8 Semester wie in den USA] war stümperhaft.

Die duale Berufsausbildung wird noch etwas abnehmen, deshalb muss man die Ausbildung an Fachschulen [4 Semester] mit einem Übergang an Fachhochschulen ermöglichen, bspw. mit Fachschulabschlüssen als "associate degree", die zum Bachelor an den FHs erweitert werden können.

Durch Mechanisierung, Maschinisierung, Automation und kybernetische Selbststeuerung [Industrie 4.0] benötigen wir weniger Fachkräfte.