Lobbyismus

„Jeder muss seine eigenen Regeln aufstellen“

30. Juni 2011

vorwärts.de:
Vor einem Jahr haben Sie in Ihrem Buch "Wir Abnicker" die Selbstentmachtung des Bundestags kritisiert. Hat sich an
dieser Situation mittlerweile etwas geändert?

Marco Bülow: Es ist schlimmer geworden. Die Prozesse, die ich in meinem Buch beschreibe, haben sich beschleunigt. Der Einfluss des Lobbyismus hat mit der schwarz-gelben Regierung
einen neuen Höhepunkt erreicht. Mit Mövenpick, also den Steuerentlastungen für Hoteliers, fing es an. Noch augenfälliger ist die Lobbymacht aber beim Deal mit der Atomindustrie gewesen.
Lobbyismus insgesamt ist nach wie vor nichts Schlimmes, aber dass einige Lobbyisten unglaublichen Einfluss haben und andere ungehört bleiben, ist problematisch. Da haben wir eine neue Qualität
erreicht.

Sind FDP- und Unionspolitiker korrupter als andere?

So pauschal würde ich das nicht sagen. Es ist aber klar, dass es immer schon eine größere Nähe von liberalen und konservativen Politkern zur Wirtschaft gegeben hat als bei anderen. Gerald
Hennenhöfer war jahrelang der Kontaktmann der Atomlobby zur Politik. Kurz nach der Regierungsübernahme von Schwarz-Gelb ist er dann für Atomfragen zuständiger Referatsleiter im
Bundesumweltministerium geworden. Das ist schon auffällig.

Also ist der Lobby-Einfluss doch ein Problem der gegenwärtigen Regierung?

Ich denke, das hat nicht nur mit Parteien zu tun. Insgesamt hat der Drang von Regierung und Parlamentariern zugenommen, Lobbyisten beim Entstehen von Gesetzesentwürfen mit einzubeziehen.
Auf der einen Seite möchte man ihnen sicher einen Gefallen tun. Auf der anderen Seite meint man aber auch, ihre Schützenhilfe zu brauchen. Auf uns Parlamentarier prasseln immer mehr Anforderungen
ein, die wir kaum noch handhaben können. Da scheint die Zuarbeit von Lobbyisten manchmal hilfreich zu sein.

Dann werden Lobbyisten also vor allem deshalb hinzugezogen, weil die Abgeordneten überfordert sind?

Zum Teil ja. Obwohl ich mich mit dem Thema schon lange beschäftige, bin ich von den ganzen Gesetzesvorlagen zur Energiewende vollkommen überfordert. Weil mir die Zeit fehlt, kann ich mich
um kaum ein anderes Thema kümmern als die Atomkraft, obwohl viele andere Bereiche genauso wichtig wären. Ein überforderter Abgeordneter kann aber nicht genau wissen, worüber er abstimmt. Diese
Überforderung, führt zu einer faktischen Entmachtung des Parlaments.

Das klingt, als würde die Regierung diese Überforderung bewusst forcieren.

Ja, diese Überforderung ist gewollt. Es gibt immer Abstimmungen, die unter einem natürlich Zeitdruck stehen - etwa wenn es um Rettungsfonds oder ähnliches geht, bei denen Tage entscheiden.
Andere Gesetzte, wie jetzt die Energiegesetze, hätten aber nicht in so großer Eile durchgepeitscht werden müssen. Aber die Bundeskanzlerin hat natürlich ein Interesse, das Thema möglichst schnell
loszuwerden, weil sie weiß, dass sie dabei nur in der Defensive ist.

Wenn sie ein Thema nicht durchschauen, bleibt den Abgeordneten eigentlich nur noch die Enthaltung.

Natürlich kann man sich bei der Abstimmung enthalten. Das Grundproblem löst das aber nicht. Mich ärgert, dass in der Atomfrage die Ethikkommission genügend Zeit zum Diskutieren hatte -
allerdings nicht mit uns Parlamentariern. Die - nicht gewählten - Mitglieder haben ein Ergebnis vorgestellt, das wir dann im Schnelldurchgang bearbeiten mussten. Sie müssen sich das vorstellen:
Wir hatten damals im Ausschuss eine halbe Stunde Zeit, darüber zu diskutieren.

Nochmal zurück zum Einfluss der Lobbyisten: Die Rechtsstellungskommission des Bundestags hat vor einigen Wochen Vorschläge für neue Verhaltensregeln der Abgeordneten vorgelegt. Sorgen die
für mehr Transparenz?

Die Vorschläge sind Schritte in die richtige Richtung. Wir brauchen aber mehr. Das vorgeschlagene Lobbyregister, hinter dem mittlerweile alle Oppositionsparteien stehen, etwa ist sehr
vernünftig. Wir werden aber nicht alle Probleme mit Regeln lösen. Jeder Abgeordnete sollte sich stattdessen selbst fragen, wie viel Zeit er in Treffen mit Lobbyisten investieren möchte und ob er
das, was er dort erfährt, auch ausreichend hinterfragen kann. Jeder muss da für sich eigene Regeln aufstellen.

Die Bürger scheint das Verhalten ihrer Vertreter zunehmend zu stören. Sie beteiligen sich immer weniger an Wahlen und engagieren sicht lieber in Bürgerinitiativen. Hat sich die
parlamentarische Demokratie überlebt?

Nein. Die parlamentarische Demokratie hat weiterhin ihre Berechtigung. Die Parlamentarier müssen aber den Mut haben, selbstständig zu denken und sich nicht alles gefallen zu lassen. Wenn
wir das schaffen, wird die parlamentarische Demokratie überleben. Sie sollte trotzdem, wenn es um Sachfragen geht, um direktdemokratische Elemente ergänzt werden. Natürlich darf es nicht so weit
gehen, dass Teile des Grundgesetzes durch eine Volksabstimmung außer Kraft gesetzt werden, wie wir es in der Schweiz erlebt haben.

Mehr Beteiligung ist auch das Ziel der SPD.
Die Führung hat ihre Pläne für eine Reform der Partei vorgelegt. Sind sie der richtige Weg, die SPD zu
demokratisieren?

Sie sind ein Beitrag. Eine Menge der Vorschläge zur Öffnung und Demokratisierung unterstütze ich. Man sollte auch Interessierten ohne Parteibuch innerhalb der Partei eine Möglichkeit zur
Beteiligung geben. Viele Ortsvereine und Arbeitsgemeinschaften wie etwa die Jusos machen das ja auch schon lange, wenn es um thematische Diskussionen geht. Das sollten wir verstärken. Bei der
Beteiligung von Nichtmitgliedern an der Kandidatenauswahl bin ich allerdings sehr skeptisch. Für bestimmte Entscheidungen sollte man Parteimitglied sein müssen. Über Urabstimmungen oder offene
Wahlkreiskonferenzen sollten die Mitglieder mehr Einfluss auf die Kandidatenauswahl bekommen. Sie fühlen sich dann auch ernster genommen.

Interview: Kai Doering


Marco Bülow
, Jahrgang 1971, ist seit 2002 Bundestagsabgeordneter für den Wahlkreis 143, Dortmund I. Er ist stellvertretender Sprecher der Arbeitsgruppe Energie der SPD-Bundestagsfraktion.

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