Experten-Interview

Deutscher Arbeitsmarkt braucht 500 000 Zuwanderer pro Jahr

Robert Kiesel10. August 2015
Der Arbeitsmarkt braucht Zuwanderung
Ob auf dem Bau oder anderswo: Deutschland braucht dringend neue Arbeitskräfte. Experten fordern mehrere 100000 Zuwanderer pro Jahr.
Deutschland, ein Einwanderungsland? Für Herbert Brücker gibt es auf diese Frage nur eine Antwort. Der Migrationsexperte empfielt eine jährliche Zuwanderung von 500 000 Menschen. Bleibt diese aus, sind die Folgen dramatisch.

Herr Brücker, das Thema Zuwanderung beherrscht die politische Debatte. Klar ist: Deutschland braucht sie. Wie hoch ist der Bedarf tatsächlich?

Volkswirtschaftlich gibt es keinen festgelegten Bedarf an Migranten. Alle Märkte, vor allem die Kapitalmärkte, passen sich zumindest langfristig an Veränderungen des Arbeitsangebots an. Das heißt: Löhne und Arbeitslosigkeit bleiben weitgehend unverändert. Aber: Migration hat durch den demografischen Wandel erheblichen Einfluss auf den Sozialstaat. Wir rechnen damit, dass ohne Wanderungseffekte das Erwerbspersonenpotenzial in Deutschland bis zum Jahr 2050 um 40 Prozent beziehungsweise rund 16 Millionen Menschen sinkt. Dann müssten sehr viel weniger Erwerbstätige immer mehr Rentner finanzieren. Um den Sozialstaat, so wie wir ihn kennen, aufrecht zu erhalten, brauchen wir deshalb Zuwanderung. Auch um die Verteilungskonflikte zu begrenzen.

Wie viele Zuwanderer braucht es dafür jährlich?

Um das Erwerbspersonenpotential stabil zu halten, müsste die Nettozuwanderung zwischen 400 000 und 500 000 Menschen pro Jahr liegen. Der zu erwartende Anstieg der Erwerbsbeteilung bei Älteren und Frauen ist da schon eingerechnet.

Das „interne Potential“ reicht also nicht aus?

Auf keinen Fall. Die weitere Steigerung der Frauenerwerbsquote und die stärkere Erwerbsbeteiligung von Älteren können helfen, aber in sehr viel geringerem Umfang als Migration.

Hat die Wirtschaft diese Entwicklung erkannt? Reagiert sie angemessen?

Die Wirtschaft hatte viele Jahre lang überhaupt keinen Grund, sich damit auseinanderzusetzen. Die Arbeitslosigkeit war hoch, das Arbeitskräftepotenzial ausreichend. In der Breite ist das zwar heute noch so, es wird sich aber schon bald ändern. Punktuelle sind bereits jetzt Engpässe zu beobachten.

Wird genug getan?

Ein Umdenken ist da, definitiv. Gerade die Unternehmensverbände gehen voran. Die Firmen aber hinken bei der Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte hinterher. In dem Bereich wäre mehr Internationalisierung wünschenswert.

Und die Politik, schafft sie die nötigen Voraussetzungen?

Die Politik macht sich tatsächlich sehr viele Gedanken darüber, wie sie die Gesellschaft für Zuwanderung öffnen kann. Die Debatte darüber, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist oder nicht, gehört der Vergangenheit an. Das ist ein Fortschritt. Ich beobachte ein breites Umdenken in allen politischen Lagern.

Bleibt die Gesellschaft: Sind die Deutschen offen für Millionen Zuwanderer?

Aktuell ist es tatsächlich schwer, die Gesellschaft auf diesen Kurs mitzunehmen. Die Positionen dazu sind sehr ambivalent, Teile der Bevölkerung lehnen Zuwanderung aus sehr breiten Motivlagen ab. Das reicht von der Furcht vor Verdrängung über die Angst vor einer übermäßigen Belastung des Sozialstaats bis hin zur generellen Angst vor Fremden. Die politischen Eliten sind da sehr viel weiter als große Teile der Gesellschaft.

Immer wieder ist zu hören: „Die Ausländer nehmen uns die Arbeit weg“. Stimmt das?

Ich habe viele Studien dazu erstellt, aber auch der überwiegende Teil der Literatur kommt zu dem Schluss: Es gibt durch Zuwanderung nahezu keine Verdrängungseffekte durch ausländische Arbeitskräfte. Die einheimische Bevölkerung profitiert sogar davon, steigt auf in Bereiche mit höherem Lohnniveau. Die intuitiv entstehenden Ängste entsprechen nicht den Fakten.

Zurück zu den Zahlen: Wird Deutschland seinen Bedarf an Zuwanderung bis 2050 decken können?

Das ist schwer vorherzusagen. Im historischen Schnitt sind seit Gründung der Bundesrepublik jährlich etwa 200 000 Menschen eingewandert – mit starken Schwankungen. Aktuell liegen die Zuwanderungszahlen deutlich darüber. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass sich das bald wieder ändert.

Warum sollte sich das ändern?

Weil die Wirtschaftskrise viele EU-Bürger nach Deutschland getrieben hat. Nicht nur aus den Krisenstaaten, auch aus den neuen Mitgliedsstaaten der EU, die heute nicht mehr nach Spanien, Italien und Irland, sondern nach Deutschland wandern. Lässt die Krise nach, werden diese Wanderungsströme nachlassen. Langfristig sind wir darauf angewiesen,  dass Menschen aus sogenannten Drittländern außerhalb der EU nach Deutschland kommen. Sie machen derzeit nur rund ein Drittel der Zuwanderung nach Deutschland aus, langfristig werden es zwei Drittel sein müssen. Die Schranken für die Arbeitsmigration aus diesen Ländern zu senken ist die große Aufgabe, vor der wir heute stehen.

Eine Anspielung auf die aktuelle Debatte über ein Einwanderungsgesetz. Was halten Sie davon?

Ich begrüße die Diskussion darüber sehr. Sie ist ein Fortschritt, in welcher Form auch immer sie geführt wird. Die Frage ist, ob es uns jetzt gelingt, ein Einwanderungsgesetz zu machen, das eine kluge Steuerung der Zuwanderung aus Ländern außerhalb der EU schafft. Dazu muss das System einfacher und transparenter gestaltet werden und die Hürden für die Arbeitsmigration senken.

Grundsätzlich: An welchem Ziel sollte sich dieses Gesetz orientieren?

Daran, dass die Menschen die zu uns kommen ein auskömmliches Einkommen haben und hier erwerbstätig sein können. Wenn wir das erreichen, ist viel geschafft.

Herbert Brücker

ist Professor für Volkswirtschaftslehre und arbeitet für das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Beim IAB leitet er den Forschungsbereich „Internationale Vergleiche und Europäische Integration“. Seine Forschungsschwerpunkte sind internationale Migration, Europäische Integration und Arbeitsmarktpolitik.

Flüchtlinge – Herausforderung für Europa

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Kommentare

ad absurdum

In Deutschland sind über 5Mio. Menschen arbeitslos (echte Quote).
Sind keine Fachkräfte dabei? Ist die Zuwanderung in dieser oben gewünschten Grössenordnung in der gewünschten Qualität überhaupt realisierbar? Nein! Seit Jahren kommen vermehrt nur Zuwanderer die keinen Beruf gelernt haben, unsere Sprache nicht sprechen und somit meist in den Sozialsystemen landen. Das es sich hierbei meist um Menschen mit einer anderen Kultur und Religion dreht, macht die Zuwanderung zu einem zweifelhaften Unterfangen. Speziell mit Muslimen wird es garantiert nicht ohne viele Zugeständnisse funktionieren - s. Parallelgesellschaften, wo sie ihr Leben so weiterleben, wie sie es in ihren Herkunftsländern gewohnt sind. Die Integration ist leider, wie man in den letzten Jahren erfahren musste, meist eine Einbahnstrasse und somit gescheitert. Die Zuwanderung, wie sie gewünscht wird, sollte durch die Wiedereinstellung vieler älteren aussortierten Fachleute kompensiert werden, doch geht es hier um den Lohn, der von Zuwanderern stark unter Druck geraten ist und somit nicht mehr gezahlt wird - Lohnkosten sparen auf Kosten der einheimische Arbeitnehmer...
Mit der gwünschten Zuwanderung schafft sich D ab...

Haste Töne Teil 3

Dieser Artikel steht unter der Überschrift „Flüchtlinge - Herausforderung für Europa“.
Interessant, das Europa und nicht Europäische Union geschrieben wird. Vermutlich ist es der Tatsache geschuldet, das es keine Union gibt. Es hat lediglich einen Versuch gegeben eine Union zu bilden, welcher aber ganz klar gescheitert ist.
Die angestrebten Ziele sollten viel zu schnell erreicht werden. Was vielleicht in 200 Jahren denkbar ist, sollte schon nach 20 Jahren Realität sein. Und jetzt stehen die Opfer dieses Versuchs vor unserer Tür und wir können nicht helfen. Was sagen wir den Menschen, die nächstes Jahr kommen und unser System vor dem Zusammenbruch steht?
Wir müssen sofort Handeln. Für mich bedeutet das fairer Handel mit Afrika. Schutzzölle auf Europäische Waren zulassen damit der einheimische Markt eine Chance hat. Keine Knebelverträge durch Europa nur um die eigenen Produkte an den Markt zu bringen. Sofortige Distanzierung vom aggressiv- militanten Kurs der amerikanischen Administration. Unterstützung der europäischen Außenstaaten bei den Grenzkontrollen und der Erfassung asylberechtigter Flüchtlinge.

Glück Auf
Frank Riebensahm

Haste Töne Teil 2

Wie soll das funktionieren, das die einheimische Bevölkerung in Bereiche mit höherem Lohnniveau gelangt, wenn die Zahl der Zuwanderung steigt???
Für mich sieht es so aus, dass Herr Brücker keinen Unterschied zwischen Kriegsflüchtlingen qualifizierten Fachkräften aus dem Ausland macht.
Herr Brücker, Sie haben die Gelegenheit bekommen ein Interview beim Vorwärts zu geben. Die Arbeiter, welche den Vorwärts 1876 auf der Straße verteilt haben wurde vom System verfolgt, beschimpft und verprügelt. Das System wurde schon damals von der Wirtschaft gelenkt. Jetzt behaupten Sie an dieser Stelle, die politischen Eliten sind sehr viel weiter, als große Teile der Gesellschaft. Das ist eine Schande und Beleidigung für die arbeitende Bevölkerung. Wir sehen doch, wohin uns die politischen Eliten geführt haben.
Wenn es unserem Land so gut geht, warum gibt es noch immer 450€ Jobs, Zeitverträge und Leiharbeiter? Was die Wirtschaft wirklich will ist eine Absenkung des Lohn- Niveaus, um günstiger zu produzieren. Da kommen ein paar Fremdarbeiter gerade recht.

Haste Töne Teil 1

Hasste Töne?!,
diesen Artikel musste ich zweimal lesen, weil ich ihn wohl eher in Manager- Zeitungen, als im Vorwärts erwartet hätte.
Momentan erleben wir eine Zeit, in der viele Masken fallen und die negativen Auswirkungen des vorangepeitschten Wirtschaftswachstums zum Vorschein kommen.
Auf der einen Seite werden unsere Politiker (politische Eliten, wie Herr Brücker sie bezeichnet) langsam wach und treffen Aussagen wie: „Richtig ist aber auch, dass unser Land einen solchen Druck wie in diesen Tagen nicht auf unabsehbare Zeit wird aushalten können.“ Auf der Anderen , will uns die Wirtschaft glauben machen, dass wir 500.000 freie Arbeitsplätze haben, in denen Flüchtlinge eingesetzt werden können. (Zitat Ulrich Grillo, Präsident Bundesverband der deutschen Industrie in der Tagesschau vom 01.09.2015).
Wenn diese Plätze von den Ärmsten der Armen, ohne Sprachkenntnis besetzt werden können, was für Qualifikationen haben dann unsere 2,8 Millionen Arbeitslosen?

Wer zahlt in 2060 die Sozialversicherungsbeiträge?

Es gilt einmal mehr zu differenzieren: Wenn befürchtet wird, Deutschland schafft sich mit dem Zuzug ausländischer Bürger oder Aufnahme von Flüchtlingen ab, wäre es doch einmal sinnvoll, den benutzten Begriff "Deutschland" zu definieren. Ist es das Staatsgebiet, das jeder im neueren Atlas als Deutschland findet? Oder ist es die Gemeinschaft der Menschen, die hier leben? Wenn die Statistik stimmt, leben derzeit rund 83 Mio Menschen in Deutschland, die eine deutsche Staatsbürgerschaft vorweisen können. Durchaus auch sehr viele darunter, die ausländische Wurzeln haben und heute "Deutsche" sind. Die Grenzen des Gebiets, in dem "Deutsche" wohnen, hat sich in den Jahrhunderten erst gebildet, die Bevölkerung, die hier jetzt lebt und sich als Deutsche bezeichnet, über viele Jahrhunderte auch durch Zuzug aus anderen Gebieten entwickelt. Diese Bevölkerungsentwicklung wird auch nicht zu bremsen sein!
Es ist gewiss: jetzt 83 Mio Menschen, bei gleichbleibender Bevölkerungsentwicklung im Jahre 2060 nur noch 63 Mio Menschen. Wer zahlt dann die Renten und Krankenkassen? Wir brauchen Zuzug von jungen, motivierten Menschen, die gute „Deutsche“ werden wollen.