
Herr Brücker, das Thema Zuwanderung beherrscht die politische Debatte. Klar ist: Deutschland braucht sie. Wie hoch ist der Bedarf tatsächlich?
Volkswirtschaftlich gibt es keinen festgelegten Bedarf an Migranten. Alle Märkte, vor allem die Kapitalmärkte, passen sich zumindest langfristig an Veränderungen des Arbeitsangebots an. Das heißt: Löhne und Arbeitslosigkeit bleiben weitgehend unverändert. Aber: Migration hat durch den demografischen Wandel erheblichen Einfluss auf den Sozialstaat. Wir rechnen damit, dass ohne Wanderungseffekte das Erwerbspersonenpotenzial in Deutschland bis zum Jahr 2050 um 40 Prozent beziehungsweise rund 16 Millionen Menschen sinkt. Dann müssten sehr viel weniger Erwerbstätige immer mehr Rentner finanzieren. Um den Sozialstaat, so wie wir ihn kennen, aufrecht zu erhalten, brauchen wir deshalb Zuwanderung. Auch um die Verteilungskonflikte zu begrenzen.
Wie viele Zuwanderer braucht es dafür jährlich?
Um das Erwerbspersonenpotential stabil zu halten, müsste die Nettozuwanderung zwischen 400 000 und 500 000 Menschen pro Jahr liegen. Der zu erwartende Anstieg der Erwerbsbeteilung bei Älteren und Frauen ist da schon eingerechnet.
Das „interne Potential“ reicht also nicht aus?
Auf keinen Fall. Die weitere Steigerung der Frauenerwerbsquote und die stärkere Erwerbsbeteiligung von Älteren können helfen, aber in sehr viel geringerem Umfang als Migration.
Hat die Wirtschaft diese Entwicklung erkannt? Reagiert sie angemessen?
Die Wirtschaft hatte viele Jahre lang überhaupt keinen Grund, sich damit auseinanderzusetzen. Die Arbeitslosigkeit war hoch, das Arbeitskräftepotenzial ausreichend. In der Breite ist das zwar heute noch so, es wird sich aber schon bald ändern. Punktuelle sind bereits jetzt Engpässe zu beobachten.
Wird genug getan?
Ein Umdenken ist da, definitiv. Gerade die Unternehmensverbände gehen voran. Die Firmen aber hinken bei der Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte hinterher. In dem Bereich wäre mehr Internationalisierung wünschenswert.
Und die Politik, schafft sie die nötigen Voraussetzungen?
Die Politik macht sich tatsächlich sehr viele Gedanken darüber, wie sie die Gesellschaft für Zuwanderung öffnen kann. Die Debatte darüber, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist oder nicht, gehört der Vergangenheit an. Das ist ein Fortschritt. Ich beobachte ein breites Umdenken in allen politischen Lagern.
Bleibt die Gesellschaft: Sind die Deutschen offen für Millionen Zuwanderer?
Aktuell ist es tatsächlich schwer, die Gesellschaft auf diesen Kurs mitzunehmen. Die Positionen dazu sind sehr ambivalent, Teile der Bevölkerung lehnen Zuwanderung aus sehr breiten Motivlagen ab. Das reicht von der Furcht vor Verdrängung über die Angst vor einer übermäßigen Belastung des Sozialstaats bis hin zur generellen Angst vor Fremden. Die politischen Eliten sind da sehr viel weiter als große Teile der Gesellschaft.
Immer wieder ist zu hören: „Die Ausländer nehmen uns die Arbeit weg“. Stimmt das?
Ich habe viele Studien dazu erstellt, aber auch der überwiegende Teil der Literatur kommt zu dem Schluss: Es gibt durch Zuwanderung nahezu keine Verdrängungseffekte durch ausländische Arbeitskräfte. Die einheimische Bevölkerung profitiert sogar davon, steigt auf in Bereiche mit höherem Lohnniveau. Die intuitiv entstehenden Ängste entsprechen nicht den Fakten.
Zurück zu den Zahlen: Wird Deutschland seinen Bedarf an Zuwanderung bis 2050 decken können?
Das ist schwer vorherzusagen. Im historischen Schnitt sind seit Gründung der Bundesrepublik jährlich etwa 200 000 Menschen eingewandert – mit starken Schwankungen. Aktuell liegen die Zuwanderungszahlen deutlich darüber. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass sich das bald wieder ändert.
Warum sollte sich das ändern?
Weil die Wirtschaftskrise viele EU-Bürger nach Deutschland getrieben hat. Nicht nur aus den Krisenstaaten, auch aus den neuen Mitgliedsstaaten der EU, die heute nicht mehr nach Spanien, Italien und Irland, sondern nach Deutschland wandern. Lässt die Krise nach, werden diese Wanderungsströme nachlassen. Langfristig sind wir darauf angewiesen, dass Menschen aus sogenannten Drittländern außerhalb der EU nach Deutschland kommen. Sie machen derzeit nur rund ein Drittel der Zuwanderung nach Deutschland aus, langfristig werden es zwei Drittel sein müssen. Die Schranken für die Arbeitsmigration aus diesen Ländern zu senken ist die große Aufgabe, vor der wir heute stehen.
Eine Anspielung auf die aktuelle Debatte über ein Einwanderungsgesetz. Was halten Sie davon?
Ich begrüße die Diskussion darüber sehr. Sie ist ein Fortschritt, in welcher Form auch immer sie geführt wird. Die Frage ist, ob es uns jetzt gelingt, ein Einwanderungsgesetz zu machen, das eine kluge Steuerung der Zuwanderung aus Ländern außerhalb der EU schafft. Dazu muss das System einfacher und transparenter gestaltet werden und die Hürden für die Arbeitsmigration senken.
Grundsätzlich: An welchem Ziel sollte sich dieses Gesetz orientieren?
Daran, dass die Menschen die zu uns kommen ein auskömmliches Einkommen haben und hier erwerbstätig sein können. Wenn wir das erreichen, ist viel geschafft.
ist Professor für Volkswirtschaftslehre und arbeitet für das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Beim IAB leitet er den Forschungsbereich „Internationale Vergleiche und Europäische Integration“. Seine Forschungsschwerpunkte sind internationale Migration, Europäische Integration und Arbeitsmarktpolitik.Herbert Brücker